Die Kinder von Nymph – Leseprobe

Liza lacht nicht.

Die Kinder lachen, sie nicht. Unter den zugewucherten Türmen ist ihr eher nach Heulen. Warum? Warum, warum nur … warum muss sie JETZT an das UFO denken? Ist Jahre her. Damals im Fernsehen, der 4. Juli 2009, der Tag, an dem die SOL vom Himmel fiel. Ein UFO im Anflug. New York. Die Hochhäuser, besonders die beiden ganz hohen, die doppelten, die Hochhauszwillinge, und winkende Menschen auf dem Dach und Liza ein Kind noch.

Kommt ein UFO geflogen …

Ich umkreise im Gleitflug zwei Quader, schwarz wie Stahl, zwei Finger, zwei zum Siegeszeichen ausgestreckte Finger. Unzerstörbar.

Unausrottbar. Dieses verdammte Kraut ist nicht auszurotten. Das blaue Gitterkraut wächst schneller nach, als man es ausreißen kann, es überwuchert schon seit Monaten die Grabstätte. Eine Plage! Und dass jetzt die beiden Vierkreuze dran glauben müssen! Das Kraut hat sie komplett umhüllt. Sechs, sieben Meter hoch. Die hölzernen Skelette sind nicht mehr zu erkennen. Meine Vierkreuze.

Sind ja gar nicht meine, aber trotzdem! Aber trotzdem … trotzdem lieber Unkraut rupfen als zur Erde. Als ZURÜCK. Ohne Mum, ohne Dad zurück, wieso denke ich jetzt überhaupt daran? Mum und Dad, ist doch alles schon so lange her. »Du wirst erwachsen, Fräulein«, der Mann beim Vorratscontainer hat tatsächlich »Fräulein« gesagt. Und große Augen gekriegt. Weil ich nackt bin. Weil ich wie ein … Tier … nackt durch den Wald streife. Wie ein Nymphalit. Wie einer von denen, die IHR ausgerottet habt.

Das ist unfair. Keiner von DENEN war daran beteiligt. Keiner.

Liza zerrt an der Wand aus Pflanzen, an den dunkelblaugrünen Tentakeln, die im Sonnenlicht metallisch glänzen; zierliche Schlingen, zu Tausenden Knoten verbunden. Gitter, Gittermatten, aus denen schmale, kaum grashalmdicke Blätter wachsen. Blätter und Schlingen sind so zart, dass sie sich wie Papier zerreißen lassen. Aber in ihrer Masse unbesiegbar. Wie die Nymphaliten, als sie sich auf die Terraner stürzten.

Wolken aus Schmetterlingen. Schwarze Wolken aus hungrigen, knochenmageren Schmetterlingsmenschen. Millionen von Phaliten. Die ganze Welt hatte sich in Phaliten verwandelt und die Menschen …

Will nicht daran denken. So lange her …

Und dieses Kraut geht gar nicht ab. Liza zerrt und zerrt an dem Turm, als wolle sie ihn ausziehen. Die Kinder sind mit ihrem Bumerang beschäftigt. Mit Djalus Bumerang. So viele Tote …

»Könnt ihr mir vielleicht mal helfen, ihr kleinen Rotzlöffel?«

»Bäbä, bähbäääh!«, schimpft Djalu zurück. Schwarzer Rotzlöffel. Schwarzer dicker Mops.

»Phalit!«, ruft Liza.

»Selber!«, antwortet der Rotzlöffel.

Natürlich ist Djalu kein Phalit. Weder Phalit noch Nymphalit, weder schwarzer Schmetterling noch weiße Raupe. Die einzigen Nymphaliten, die Djalu kennt, sind seine drei Kameraden. Weiße Raupen. Er hat nichts erlebt, ER nicht. Gar nichts.

»Du weißt nicht mal, was das ist …«

Djalu fängt den zurückkommenden Bumerang auf. Richtig gut macht er das. Wie seine Vorfahren.

»Ich bin Anangu!«, ruft der Junge und ist stolz darauf. Stolz, kein Nymphalit zu sein. »Anangu« sind Aborigines. Ur-Australier. Terraner. Erdmenschen. Aber das hier ist Nymph. Wir leben auf Nymph! Warum hat Clara ihn überhaupt mitgebracht? Warum sind sie überhaupt gekommen?

Ein Terraner hätte uns genügt. Leon, der einzige Überlebende, der hätte uns genügt. Er hätte uns finden dürfen. Irgendwann. Er oder die drei Geschwister, die letzten echten Nymphaliten. Nur sie – und wir, mein Bruder Harry und ich. Wir wären dann eine Familie gewesen. Eine richtige Schwesternschaft geworden. Wir hätten genügt. Uns genügt. Ohne Djalu! Leons Sohn.

Der ist später gekommen. Mit der zweiten Expedition. Mit Clara. Leons Frau. Aus Australien. Clara kocht immer extra für Djalu. Ihr Kind. IHRES. Trotz der begrenzten Vorräte.

Rotzlöffel.

Liza zerrt und zerrt, immer wieder fallen Placken aus blauem Grün hinab.

Ein Erwachsener wäre in Ordnung gewesen. Hundert Menschen kann Nymph nicht ernähren. Für drei ist es genug. Aber täglich gibt es Fleisch für Djalu. Fleisch aus dem Stallhaus. Erdtiere. Hühner, Kaninchen und sogar zwei Kühe. Alles mitgebracht. Fleisch, Milch, Butter, Joghurt, Quark und Käse. WIR essen so was nicht. Auf Nymph isst man so was nicht.

Liza spürt, wie Djalu sie beobachtet. Mit der ureigenen Bosheit eines vierjährigen Jungen. Auf seinem runden Kopf kräuseln sich die dunkelbraunen Filzlocken. Die flachen, breiten Nasenflügel beben vor Ausgebufftheit. Seine Augen verraten ihn. Große, schwarze Augen. Und seine dunklen Lippen sind geschürzt. Djalu hat etwas entdeckt. An ihr. Mistkerl! Pummelig ist er. Ein lehmbrauner Pummel. Wir anderen sind weiß. Wir anderen sind echte Nymphaliten, du nicht, du Mistkerl.

Während sie zerrt und reißt, betrachtet sie aus den Augenwinkeln Chelis. Und Eff und Perf. Die einzig ECHTEN Ureinwohner. Sie sind auch keine Hilfe beim Unkrautrupfen. Sie machen Lärm wie Djalu und irgendwas. Warum helfen mir nicht wenigstens meine LANDSLEUTE?

Weil sie das nicht sind. SIE sind weiß. Richtig, richtig weiß, wie weiße Kerzen wachsweiß. Und dünn. Auch Liza ist dünn, aber bei ihnen sind selbst die Knochen dünn. Und knorpelweich.

Mit seinen fünf Nymphjahren ist Chelis zwar so groß wie Djalu, einen Meter vielleicht, er hat aber nicht mal halb so viel Körpermasse wie der Erdjunge. Das Dünne macht seinen Kopf groß, Chelis’ Kopf ist ein aufrecht stehendes weißes Ei. Mit wie aufgemalten großen, riesig großen Augen, winzig kleiner Nase, kleinem Mündchen und kleinen Ohren. Außerdem ist er völlig haarlos. Wie eine Kerze eben. Oder eine nackte Raupe. Nicht mal Augenbrauen hat er, nur Wimpern, aber das sind eher kleine Würmer als Haare. Chelis ist ein Junge, doch selbst nackt von seinen Schwestern kaum zu unterscheiden. Wie sie hat er weder einen Bauchnabel noch ein Geschlecht. Der winzige Knopf zwischen seinen Beinen, das ist zwar ein Penis, da, wo bei den Mädchen eine kaum erkennbare Haarlinie zu sehen ist. Doch für den Unterschied muss man schon sehr genau hinsehen.

Liza sieht sehr genau hin. Lässt für einen Moment Blaukraut Blaukraut sein. Und starrt auf die ihr anvertraute Brut. Auf diesen nackten Haufen, der nicht zusammengehört. Um den sie sich kümmert. Kümmern muss. Ich bin keine Nymphalitin.

Die Flügel machen den entscheidenden Unterschied. Jedenfalls das, was irgendwann einmal zu Flügeln wird. Aus den Schulterblättern der Nymphalitenkinder wachsen zwei Knäuel feuchter Hautlappen, nicht größer als flach gedrückte, zerknüllte, feucht glänzende Rosenblüten. Sie schillern bei Chelis schwarz, durchzogen von grünen und orangefarbenen Schlieren. Und bei den Mädchen sind sie einfarbig: blau bei Effusa, rot bei Perflua. Die drei SIND anders. Liza muss sich jeden Tag den Kopf scheren, mit dem elektrischen Rasierer von Leon, um wenigstens ein bisschen so auszusehen wie sie. Und trotzdem hat sie jetzt schon wieder Haarstoppeln. Rote Haare. Und meine Haut ist ein Sommersprossenteppich.

Während Djalu und Chelis über den Bumerang fachsimpeln, moderiert von Effusa, die noch zierlicher ist als ihre Geschwister, das reinste Knochengerippe, steht Harry da wie nichts. Verloren am Waldrand. Lizas kleiner Bruder, der schon fast elf ist. Kleiner als Liza, aber größer als die anderen, von denen nur Perflua manchmal bei ihm ist. Wie jetzt. Sie mag Harry, obwohl Harry weder an ihr noch an sonst wem Interesse hat.

Harry hat Haare. Wie Djalu. Lange Haare, verfilzt, und rotblond. Eine Mähne, deren Schur er sich genauso vehement widersetzt, wie Liza sich dem Wachstum ihrer eigenen. Harry schaut auf die Vierkreuze. Nicht zu Liza, nur auf die beiden krautbewachsenen Türme. Mit nach innen gerichteten grünen Augen, er schaut mehr durch die Türme durch als drauf. Hohe Stirn, durchgehende, für ein Kind viel zu dichte Augenbrauen. Und Perf schaut auf Harry.

»Du kriegst ein’ Busen!«, kräht Djalu. Der Großkotz hebt den Bumerang in die Höhe und beginnt einen Hüpftanz, wirft giftige Blicke auf Liza und singt: »Liza kriegt ein’ Busen … Liza kriegt ein’ Busen …«

Chelis und Eff folgen ihm, tanzen auch, und als der kleine Zug bei Harry und Perf ankommt, reiht sich Perf ebenfalls ein. Nur Harry zeigt keine Reaktion. Harry nicht … aber kaum aus Solidarität mit seiner Schwester, wohl kaum.

»Liza kriegt ein’ Busen … Liza kriegt ein’ Busen …«, grölen sie. Der Bumerang leuchtet. Der Bumerang ist ein Regenbogen. Von Clara aus einer Wurzel geschnitzt und mit Farben bemalt, die sie aus Lehm, Blättern und dem Urin von Luftquallen gewonnen hat. Eine Regenbogenschlange. Yurlunggur, Djalus Totem.

Nicht nur seins, Liza, nicht nur seins …

Auf diese Gören soll ich aufpassen. Auf diese verdammten kleinen Rotz… Liza zerrt demonstrativ heftig an den Matten. Diese Scheißmatten haben ihre Kirche überwuchert!

»Liza kriegt ein’ Busen …«

Die Nymphaliten bauen Vierkreuze nur INNERHALB ihrer Kirchen … bauen … bauten!

»Klkrrtschschtsszuuuiiips, wo bist du?«, sagt sie leise.

Ist Klkrrtschschtsszuuuiiips ebenso tot wie alle anderen? Der unsterbliche Klkrrtschschtsszuuuiiips? Der Nymphaliten-Jesus?

»Vor vielen hundert Jahren …«, ruft Liza gegen das Kindergejohle, »vor vielen hundert Jahren hat sich Klkrrtschschtsszuuuiiips an ein Kreuz binden lassen!«

Die Kinder kennen die Geschichte. Natürlich kennen sie die Geschichte. Schon tausendmal gehört. Sie sollen ja nur ihre verdammten Schnäbel halten. Tatsächlich hören sie auf. Stehen an Mums Grabstein am Rand der Kuppe mit den Vierkreuzen und schauen verhalten neugierig zu Liza. Mum hat ein eigenes Grab. Doch unter den beiden Vierkreuzen liegen fast einhundert Menschen.

Liza schüttelt die Vorstellung ab. Die Grabstätte, das Massengrab der ersten Expedition, und daneben der Grabstein ihrer Mutter, die bereits vorher gestorben war. Vor der Katastrophe …

»Zusammen mit seinen drei Gefährten. An vier Kreuze, die beieinanderstanden, sodass sie beieinander waren, dass sie sich an den Händen halten konnten. Und die Mensch… und die Nymphaliten haben sie gefüttert. Nicht gequält. Nicht wie bei EUCH! Die Nymphaliten haben ihren Jesus … bewundert!«

»Ballaballaballa …«, macht Djalu und schwenkt Yurlunggur über seinem Kopf. Wie eine Waffe.

Ich BIN eine Waffe!

[…]

Ihm war immer noch schlecht, als er das stockdustere TEUTSCHE HAUS an einer Bahnstrecke erreichte. Der Putz seit dem letzten verlorenen Krieg nicht erneuert, und das gelbe Licht der Gaslaterne so schmutzig, dass man kaum den Eingang fand. Im Erdgeschoss eine Art Kneipe, jedenfalls ein paar Autos vor der Tür, und eines davon, das hier fremd war, ein dunkelblauer VW-Golf aus Dortmund.

Out he quickly came and we all took aim.

A silver blade was in his hand.

Als könne man nicht voneinander lassen, traf Harry hinterm eisenschweren Vorhang die illustre Schlägertruppe aus der Raststätte wieder. Und zwei, drei andere Lumpenkerle mit Schnäuz, so was von kaputt, dass Harry plötzlich der normalste Junge der Welt war. So klein ist die (die Welt), dachte wohl der eine oder andere, und schon war Harry mittendrin im gestockten Verstummen, wie man eben verstummt, wenn ein das linke Bein nachziehender Fremder das Lokal betritt. Und als wäre es das Allernormalste, setzte sich also ein orange gebatikter Ombuddhist an den Spelunkentresen und bestellte bei Adolf Hitler persönlich ein Glas Kamillentee.

Wie?

Na, wie wohl, indem er kein Wort sprach, stattdessen auf eine graue, offene Pappschachtel im Schnapsregal zeigte, aus der unverkennbar die flusigen Endfäden von Teebeuteln heraushingen. Der gealterte Führer war jedoch nicht nur begriffsstutzig, sondern auch, schon wegen seiner Endkampf-Zitterhände, ungeübt in der Gebärdensprache, jedenfalls musste der Oberskinhead, der dicke Ochse, der hinten am Tisch saß, ihm, dem verschmauchten, rotzverklebten Oberlippenbärtchenwirt mit ausgedünntem Seitenscheitel nachhelfen:

»Tee, dat Schlitzauge will Kamillentee!«

Und endlich, endlich war das Eis gebrochen. Seine Ochsenbraut, die Monolocke Milchkuh rülpste vernehmlich und erlaubte sich eine Art Gackern, worauf auch einer der einheimischen Schmalspurnazis gallig lachte, und ein zweiter ihn nachäffte, und dann alle grölten und lachten, sich Mut anlachten, nein, das KONNTE einfach nicht sein, dass so ein verirrter Hare-Krishna-Jünger es mit ALLEN aufnahm, das war ganz und gar UNMÖGLICH, das gab’s nur im Film, nur in so Scheißfilmen, die eigentlich ust gut waren, die aber trotzdem scheiße waren, weil die einem beim Gucken einen Streich spielten, weil man, obwohl man’s nicht wollte, sich statt mit den GUTEN mit den verdroschenen Schurken identifizierte, und das war scheiße.

Aber hier? Und jetzt? Unmöglich!

Als Erster stand der Zweimeterklops auf, stellte sich neben Harry, der geduldig darauf wartete, dass Parkinsonhitler den brodelnden Wasserkessel über die gesprungene Mitropa-Tasse und alles mögliche andere verschüttete, der geduldig wartete, dass er, der Wirt, der sich seit Stalingrad nicht gewaschen hatte, Harry den kochend heißen Sud vor die Nase schlabberte und ihm auch ein Stück brüchig glänzenden Würfelzucker reichte.

Harry betrachtete die Unterwasserwolke, die sich aus dem dunkelgrauen Papierbeutelchen herausquälte und das dampfende Klare vergiftete wie grüngelber Schmutz. Schmutz, der sich löste, als wäre der Beutel derjenige, der Erlösung fand. Erlösung, nach tausend Jahren das Reich endlich verlassen zu dürfen, Kamille, die sich verflüchtigte, ein flüchtiger Hinweis an Harrys gereizten Magen, sich schleunigst selbst zu verflüchtigen. Aber ich bin doch gar nicht mehr da, dachte der Magen, ich habe mich doch längst aufgelöst im Broilerfett, ich habe mich zersetzt! Allein, dachte der Magen, dass da einer ist, der das hier noch denken kann, spricht irgendwie dagegen, allein, dass da einer ist in diesem unserem Körper, der ein fürchterliches Rasierwasser riechen kann, spricht dagegen … ein ätzendes, blutstillendes, die Haut verklebendes und trotzdem den allmächtigen Ausdunst des Bieres nicht unterdrücken könnendes Deodorant, erst recht nicht den Duft von Synthetic-Bomberachselhöhlen, und den Duft von Stiefeln, die Harry von unten herauf angrinsten, lustig anzuschauende schwarze Hochglanzschuhe mit dicken Schnürsenkeln, solche Schuhe müsste ich haben statt Sandalen, dachte Harry, dachte ein Teil von Harry, dachten Harry-Sandalen, die neben diesen Schuhen erbärmlich aussahen, die in diesem Moment wussten, dass sie gehen müssten, dass sie hier im TEUTSCHEN HAUS nichts verloren hatten, nichts zu suchen hatten, die hier nicht hingehörten, hierhin, wo man am liebsten den halben Krieg ungeschehen machen würde, wo man nur die erste Halbzeit vom Spiel guckt und noch vor Stalingrad aufhört, Fortsetzung folgt NICHT, Magdeburg war schließlich Herbstmeister gewesen, diese scheiß linken Zecken von Dresdenern, und diese scheiß Karl-Marx-Städter, der Name sagt doch schon alles, die haben uns die Meisterschaft versaut! So schwule Typen mit so schwulen Sandalen! Ust asi findet man das hier. Sogar der Dortmunder Ochse findet das, obwohl ihm Zonenfußball eigentlich am Arsch vorbeigeht, aber dass in Wirklichkeit die scheiß Bayern scheiß echter Deutscher Meister geworden sind, und die oberscheiß Schalker aufsteigen, dieses Gesocks, das ist mindestens genauso scheiße!

»Asozialer Asiate!«, fällt einem der beiden Stiefel dazu ein, und dem anderen nur: »Schlitzauge.«

»Eh, Schlitzauge, zeich ma ob’se Kung Fu kanns’!«, sagt der erste Stiefel, und Harry-Sandale hört darin die Zehen, wie sie sich gegenseitig abstützen und abstoßen und ihre scharfkantigen Fußnägel von unten gegen die Stahlkappen schlagen, während die eigenen nackten Fußnägel deeskalierend am Parkett schnuppern.

Der Teebeutel ist nur noch ein toter Sack. Seine Teeseele hat das Wasser in eine pissige Brühe verwandelt, keine gute Wahl, der Tee ist so wenig gut gewählt wie dieses Haus. Ein letztes Kamillendampfbad, und prompt hat sich etwas von außen in den Bauch gebohrt, hat den schwachen Magen schlagartig in die Niere gedrückt, dabei war das nur ein leichter Schlag gewesen, ausgeführt von einer aus einem ungünstigen Winkel zwischen Tresen und Sanghâti geführten linken Faust, die da etwas einquetschte in Harrys Innereien, dabei ist doch die rechte die gefürchtete! – was das betrifft, lässt Hass-Hans aus Dortmund nichts anbrennen. Harry, dem die Spucke wegblieb, der sich nur zu krümmen versuchte, hatte als Nächstes diese besagte Rechte von oben auf seinem Genick; sie donnerte seinen Kopf wie ein Geschoss auf den Tresen, doch zwischen Kopf und Tresen gab’s noch heißen Kamillentee und ein Gesicht – zweie, die sich aufs Grässlichste wiedervereinigten, ganz anders als geplant, und Harry sich noch fragte, was mehr wehtat: die Verbrühungen oder die offenen Schnittwunden, oder aber, weil so ein von oben gefällter Impuls keine Wende fand: der dumpfe Hirntod auf dem Holz. Ultimatives Schwarz, das nicht einmal mehr Trauer um die herausbrechenden Schneidezähne zuließ, oder um das entrückte Nasenbein, das sich alleingelassen ins Stammhirn verkroch wie einst bei diesem Jungen am Rhein, diesem Leon irgendwas aus …

Red pulled out his knife to take the nester’s life

Standin’ by him, man to man.

Dass die Nazine ein Messer gezückt hatte, vermutete Harry nur, denn der Wirt warf sich verbal dazwischen, »Nich’ doudstechen, Jungs, nich’ doudstechen!«, und dann machte es »Klick!« und statt Messer hatte Harry, dessen Restgesicht auf dem Tresen klebte, nun einen Frauenfuß im Arsch, eine stählerne Granate von einem Frauenfuß, sodass er langsam, wie ein vor laufender Kamera erschossener Mudschaheddin, in sich zusammenfiel, wie ein Textil ohne Körper, eine wehende Gebetsfahne, aber Körperlosigkeit ist kein Grund, nicht weiter reinzutreten in das Wallende, gewissermaßen mit den Springerstiefeln nach dem Kern zu wühlen, auch als der Wirt mit Krebsstimme rief, man solle nun aufhören, er will keine Toten in seinem Lokal, »Geene DOUDEN, geene DOUDEN!«.

Viel lauter als der Wirt war der Background-Kosakenchor, der laut vernehmlich »Neger klatschen, Neger klatschen …« sang, und dabei im Gleichschritt einen vom Führer verbotenen Swing hinlegte.

Harrys Hände und Füße wurden auseinandergerissen, bis die Gelenke nachgaben, sehen konnte er längst nichts mehr, Herr und Frau Glatze waren schließlich aus’m Westen! So gründlich, wie man eben im Westen gründlich war, schraubte SIE Harrys Handgelenke ab, und ER die Füße, sie hoben ihn an, ließen ihn wieder fallen, das Fräulein hielt die Tür auf und der Herr schleifte etwas, von dem Harry selbst nicht wusste, wie sehr es noch lebte, hinaus, durch den dicken Vorhang, zwei Stufen runter, an denen, weil er dummerweise just da den Kopf drehte, sein halbes Ohr hängen blieb, und dann über die Kopfsteinpflasterstraße und weiter, »Neger klatschen, Neger klatschen …«, gurgelte das Blut in Harrys Gehörgang, bis er undeutlich etwas Eisernes fühlte.

»Und wenn’n Zuch kommt?«, fragte der Ochse.

»Na eben!« Mit Obernazifine war es komplett durchgegangen. Das »Neger klatschen, Neger klatschen …« ging abrupt zu Ende, denn die Kneipentür schlug wieder zu und keiner der Chorknaben war mitgekommen.

Harry vermutete, dass er auf dem Rücken lag. Er konnte einen Arm bewegen, hob ihn an. Zu schwer, seine Hand klatschte ihm aufs Gesicht, was die beiden turmhoch über ihm aufragenden schwarzen Riesen herrlich amüsierte und Hass-Hans zu einer Strullorgie animierte. Der Kerl holte ein übles Tier hervor, wie Harry blinzelnd erkennen konnte, und das Tier fing gleich an zu kotzen, es kotzte die Reste vom Bier aus – eine Wohltat, wie man hinter dem glasigen, unspezifischen Blick vermuten konnte. Dann sah Harry gar nichts mehr. Was für ein Spaß, wie sein zermatschtes Gesicht in echtem Neonaziurin duschte.

Bis der Ochse »Ucks…!« machte.

Und weil die Sprenkelei aufhörte und Harrys brennenden Unterwasseraugen ungewollt zwinkerten, durfte beziehungsweise musste er Folgendes mitansehen:

Auf Hänschens stolzgeschwellter Vaterlandsbrust wuchs ein spitzes, langes Etwas, und der gerade noch glückselig verklärte Ochsenblick war auf dieses Etwas gerichtet. Plötzlich rief eine weibliche, diesmal wirklich weiblich klingende Stimme: »Hans?«

Hans schwankte, denn Hans war schwer getroffen – wer käme schon auf die Idee, im Herzen Deutschlands von einem afrikanischen Wurfspieß durchbohrt zu werden?

»Hans, ey, HANS!«

Die Augen voller Pisse und außerdem finsterste Nacht und die Gaslaterne des Bahnübergangs nur eine trübe Funzel, es bedurfte schon Harrys beinahe nymphalitischer Gabe des SEHENS, um den zweiten Speer zu erkennen, der in Evis Mund eindrang – genauso wie ihr ungestümer Freund zuweilen, nur war dessen körpereigenes Geschoss nicht so endlos lang und auch nicht so dermaßen spitz wie dieser Speer, der ihr hinten am Genick wieder rauskam.

But then we couldn’t see because his horse’s knee

Buckled as he hit a hole.

There we found the two where the north wind blew

Golden hair across his chest.

And her fingers dug into his arms ’til blood

Had made a pool beside her dress.

On the trail they lay at the break of day.

As we stood around and stared …

Harry-Caine MUSSTE das Bewusstsein verloren haben. Denn das, was Harry-Caine nun sah, das war, das glaubte er jedenfalls, das war MÖGLICHERWEISE nur ein Traum:

Eine Handvoll fliegender ringelnattergroßer Strichwesen wirbelte emsig um zwei unförmige, röchelnde Erhebungen der namenlosen Dorfstraße herum, genauso wie die Klinge, die im Mond blitzte, welche die Bomberjacken und Krempelhosen von den Körpern schnitt, wie die Augen, mitten in dem lautlosen Gewusel zwei fliegende Augen. Eine phosphoreszierende Lichtshow und sogar eine Art Baströckchen raschelte um die zwei Fleischberge herum. Und dann noch eines, aber das war eine Hose, eine kurze Hose, und nun sah Harry, dass seine Traumwesen einen Basiskörper besaßen, ein unsichtbares Mutterschiff, auf dem die weißen Nattern, die langen Messer und die Lendenschurze landeten und wieder starteten, und das alles in unglaublicher Geschwindigkeit. Immer mehr Striche, Augen, Messer, Äxte, und dann schwebte Koloss Numero eins wie eine Feder in die Höhe, vielleicht nicht wirklich wie eine Feder, eher wie ein Zeppelin, getragen von geflüsterten, gezischten, gekicherten, stimmlosen Lauten flog er davon, und dann sein Frauchen, das beim Hochwuchten Harry für einen Moment in die Augen sah, wobei die ihren von ihrer singulären Locke halb verdeckt wurden, und ihr volllippiger Mund, angeschwollen, blutfeucht und fellatiotisch weit aufgerissen, als wäre der nur DAZU geschaffen worden. Sie sah Harry auch gar nicht wirklich an, denn als sie davonflog, war ihr Blick starr und steif, ansehen taten ihn dafür zwei, drei andere Augenpaare, die über Harry eine Extrarunde drehten, etwas zum Anlanden suchten, und Fallschirmspringer, welche die Augen abwarfen, winzige gulliversche Zwergenfallschirme, im Nu waren sie auf seinen kaputten wunden Knochen, tapsten, kitzelten, und als sie sich in ihm vergriffen und nun auch er selbst sich vom Boden löste, da setzte sich ein Gedanke in ihm fest, der sagte: »Schau an, das also ist der Tod …«

Dass von weit weg irgendeiner rief: »He! Wo seiter denn? Heee!«, das drang schon nicht mehr durch zu Harry, der ins Jenseits getragen wurde, mit inneren und äußeren Verletzungen, mit ohne einem Gesicht, das noch auf dem Tresen der Kneipe klebte, mit ohne ein paar Klümpchen Broiler und Pommes, die er auf dem Weg zwischen Kneipe und Bahnübergang verloren haben musste, und ohne Magen, den er schon vor Tagen im Wilden Osten verloren hatte, und ohne eine Schwester, die sich sicher furchtbare Lizasorgen machte, dafür mit einem einäugigen Kapitän, der ihn hinüberfahren würde, ins gelobte Land Kanada, wo seine Eltern noch Kinder waren, aber das bin ich ja selber …

»Schau an, das also ist der Tod …«

Der Mond stand hoch, als Harry erneut die geschwollenen, verquollenen Klusen zu öffnen versuchte. Und feststellte, dass der Tod ein Auge vergessen hatte, das ausgeschlagene Kapitänsauge, dass Harry überhaupt nur noch aus diesem EINEN Auge bestand, das sich öffnen und schließen ließ, und das man wie gewollt in einen günstigen Blickwinkel verbracht hatte, von dem es, das Auge, ein Feuerchen sah und einen Spießbraten, der sich über dem Feuerchen drehte, der gedreht wurde von einem schwarzen Mann, einem fast nackten schwarzen Mann, dessen drahtiger Körper glänzte vor Schweiß und Widerschein der Flammen. Und andere schwarze Männer, alle so unbekleidet wie der Dreher und bemalt mit fingerdicken Linien, Zacken und Kreisen. Standen um das Feuer herum, auf dem Hass-Hansens Haut knusprig wurde und verlockend gut roch. Den Kopf hatten sie vorher abgetrennt, der lag IM Feuer und erzählte Brutzelgeschichten, und der offene Hals diente zur Stabilisierung, hatte sich kopflos im Spieß verbissen, wie mit den verkrampften Pobacken am anderen Ende. Und damit die Füße nicht herunterbaumelten, ging der Spieß auch durch die Waden der angewinkelten Beine, von deren aufgeplatzten Knien das Fett abtropfte. Und Hansens Pranken klebten am Bauchspeck, festgespickt mit langsam verkohlenden Holzspießchen.

Evi war bereits in Einzelportionen umsortiert worden. Häufchen verschiedenen Fleisches und Knochen, und in einem weiteren Feuer stand ein großer Topf, in dem eine Suppe kochte, und auch die, vermutete Harrys Kapitänsauge, war ein Teil von ihr. Und sicher war es sich, das Auge, diesbezüglich, als direkt vor ihm ein weiterer Buschmann auftauchte, der freundlich lächelte und eine Tonschale in der Hand hielt, aus der es dampfte und auf der etwas schwamm, wie ein Petersiliensträußchen, nur nicht so krause, nicht mal so krause wie das schwarze Haar des Mannes, eher glatt wie eine Lilienblüte, eine gelbe Lilienblüte, mit feinen, parallelen Haarlinien, die Harrys Auge an Sylvia denken ließ. Warum habe ich eigentlich nie, die ganze Zeit NIE an sie gedacht? Erst Evis in ihrem eigenen Leberfett schwimmende Locke macht mich wieder daran erinnern, dass es doch Sylvia war, die mich geholt hat, dass doch Sylvia mit mir nach Kanada fliegen will, dass doch Sylvia, die blondgelockte Sylvia mich liebt wie keine Schwester!

Der schwarze Krauser hatte Adidas-Streifen auf den Kugelwangen und einen Löffel in der Hand, den er nahe unterhalb von Harrys Auge irgendwo einführte, in etwas, das offenbar noch da war, denn es wurde angenehm warm und vermittelte dem Auge eine Ahnung, dass es mehr wahrzunehmen gab als das, was einem das Licht zutrug. Gerne hätte sich Harrys Auge irgendwie an dem beteiligt, was geschah, aber wie denn? Nicht eine Bewegung war möglich, nicht mal hören konnte das Auge, vom Rest der Truppe isoliert klebte oder hing das Auge an einem Baum oder Stein oder sonst was, nicht einmal sicher, ob es das einzige Organ war, das die Exklusivrechte des Reflektierens ausübte, oder ob ein kaleidoskopartiger Scherbenhaufen aus Harrys Einzelteilen mit seinen fragmentierten Möglichkeiten stückweise vor sich hin sinnierte. Oder woher kam diese Gewissheit, überhaupt noch am Leben zu sein, nicht nur am Leben, sondern immer noch in Deutschland …

Im WILDEN OSTEN, Harry, wohin ich auch gerade fleuche, obwohl du mich aus der Hand gegeben hast, egal, lass dich auch ohne Splitter nicht allein und sieh’, nun bist du Gast bei einer kleinen Gruppe Hadza auf einem Jagdausflug, Hadza, die sich von gewissen Gerüchten haben anlocken lassen; Gerüchte, die in ihrer Heimat die Runde machen, Gerüchte, die irgendwo in Afrika rund um den von Akazien und Palmen umsäumten und von Flamingos, Pelikanen, Flusspferden, Leoparden und Affen besuchten Eyasisee auf fruchtbaren geistigen Boden gefallen sind. Der See ist nämlich nur ein versalzenes Süppchen, dessen Ufer im langjährigen Mittel außer ein paar Beeren und Wurzeln wenig zu bieten haben, trotz der aufgelisteten Tierarten wenig Fleisch vor allem. An diesen weltvergessenen Ort ist die von ehemaligen sozialistischen Vertragsarbeitern ins mosambikische Nachbarland eingeschleppte Kunde von den Nazis gedrungen, gewaltigen Fleischbergen, die jenseits der Wälder, Wüsten, Meere und Berge in großen Herden grasen – Kolosse, so gefährlich wie Wasserbüffel und genauso fett und saftig. Von Mund zu Mund sind diese Erzählungen bis Sansibar und von da ins Hinterland Tansanias gelangt, bis auch die Hadza davon erfuhren. Und die Hadza, die sich wie kaum ein anderes Volk der Erde auf die ursprünglichste Form des Lebens verstehen und mit nichts als Stock und Stein ein vollständiges Dasein zelebrieren, haben eine kleine Jagdgesellschaft geschickt, haben Wald und Wüste und Meer und Berge überwunden, um im sagenhaften Fleischland Nazis zu jagen.

[…]

Minus 2 Minuten und 36 Sekunden

Das World Trade Center. Noch vielleicht zwanzig Kilometer. Eigentlich nur zwei besonders lange Pommes-Frites-Stäbe, die aus dem dichten Wald aus Würfeln, Quadern, Säulen und Kegeln markant herausstehen. Sie überqueren den Harlem River und sind in Manhattan. In etwa sechshundert Metern Höhe. Man meint, die Dächer streicheln zu können. Noch immer leuchtet ETWAS. Effusa zeigt ihnen den Weg. Chelis stellt sich vor, wie sie am Fenster steht und hinaussieht. Sie beachtet die Leute der Versicherungsgesellschaft nicht. Plötzlich springt sie an die Scheiben, mit allen vieren, und ihre gewaltig großen Schwingen flattern und helfen ihr, das Gleichgewicht zu halten. Fegen dabei über Tische und Möbel, schmeißen Topfpflanzen um, Bildschirme, Aktenordner, Kaffeetassen. Die Mitarbeiter von »Marsh & McLennan Companies« sind völlig entgeistert, rufen den Sicherheitsdienst an und scharen sich um das seltsame Wesen, mit entsprechendem Abstand wegen der Flügel. Effusa drückt ihr abdominales Becken auf eine archaisch obszöne Art gegen das Glas, schiebt ihre leuchtende Vagina dem ebenfalls leuchtenden Punkt entgegen, der sich von weit weg langsam nähert. All das sieht und weiß Chelis, weiß nicht, warum er das WEISS, aber mit ihren Augen sieht Chelis sich selbst näherkommen.

Abdulaziz schaut weg, kann nicht mehr rausschauen, sieht hoch zu Satam, konsterniert, als wolle er ihm bestätigen, was Chelis gesagt hat. Satam hat seinen Griff um Chelis gelöst.

Minus 2 Minuten und 20 Sekunden

Djalu ist drauf und dran, sein Handy mit der bloßen Faust zu zerquetschen. Schon dreimal hat er Effusas Nummer gewählt, wegen Amerika reicht die Kurzwahl nicht, er muss jedes Mal die ganze lange Ziffernfolge inklusive Auslandsvorwahl eintippen, und schon dreimal hat er, statt anzurufen, die Nummer wieder gelöscht. Nun steht er oben an der Rolltreppe, er ist jetzt einer dieser gehassten Typen, die meinen, alleine auf der Welt zu sein. Einer, der sich nicht vorstellen kann, dass hinter ihm noch Leute sind, die ebenfalls die Rolltreppe hochgefahren kommen, und die sich Djalu ins Kreuz schieben, ob sie wollen oder nicht. Djalu ist da sehr dickfellig; er registriert zwar das Geschiebe und Gestoße, auch das Gemotze, aber er jongliert seine Wurstfinger, von denen zwei auch noch die Donuttüte halten, über das Handy. Zwar kommen die Menschen irgendwie links und rechts an ihm vorbei, doch insgesamt baut sich Druck auf, Druck, der schließlich so stark ist, dass Djalu einen Schritt vorstolpert, wobei die Tüte reißt und runterfällt, und sechzehn Donuts über den Steinboden der Lobby des World Trade Centers rollen.

Minus 1 Minute und 15 Sekunden

Auch Harrys Stoffbeutel fällt zu Boden. Aber vorher hat er Effusas Handy herausgefischt. Er hält es in der Hand, wärmt es und kann es noch einmal anmachen. Der Akku ist leer, aber es blinkt, es geht trotzdem an, ein Perpetuum mobile, denkt Harry, dieses Nokia-Handy, wie ein kleines Brötchen liegt es in Harry Hand. Und weil es kein Passwort benötigt, ist es schließlich bereit. Ihr Handy. Frau Doktor, denkt Harry, du wirst vermisst. Ruf doch mal an. Ruf dich doch selbst mal an.

Dieses näherkommende Flugzeug ist merkwürdig. Merkwürdig tief, merkwürdig zielstrebig.

»You are my parents«, sagt Liza laut und deutlich, ihr seid UNSERE Eltern, korrigiert Harry im Stillen für sich. »And I will be born next June, in the year two thousand and two, the fifth of June in the year two thousand and two, that’s my birthday. And that’s exactly in nine months. And that’s true.«

Harry umklammert das Handy und hält es ans Fenster. Hält es Effusa hin, auch wenn er sie nicht sehen kann, aber sie muss da sein, da irgendwo, bitte ruf an, ich weiß, dass das Unsinn ist, dass das nicht geht, sich selbst anrufen, aber bitte, bitte mach dem hier ein Ende!

Minus 60 Sekunden

Überm Central Park sind sie so tief, dass man meint, das Grüne wäre der strubbelige Bezug eines von beidseitig vorbeiflitzenden Balustraden gesäumten Billardtisches. Und man kann schon sehr gut erkennen, dass da tatsächlich wer ist – in einem Fenster des Nordturms. Ziemlich weit oben, ziemlich genau geradeaus. Angesichts Effusa, der leuchtenden Nymphalitin vor seinen Augen, zögert Atta. Also legt Chelis seine Hände auf Attas Schultern, zwingt ihn mit Nachdruck, Kurs zu halten.

Mein Ohr, mein Ohr tut weh … Eine Hand ans Ohr.

Minus 45 Sekunden

Harry-Auge lässt das Flugzeug nicht aus dem Blick.

Minus 30 Sekunden

Ein Kind greift nach einem rollenden Donuttaler. Nehmet und esset alle davon, denkt Djalu, dies ist mein Leib, der für euch und für alle hingegeben wird … Doch die meisten Leute treten einfach drüber weg. Und da kommt auch schon der Wachmann, der Cop, der keiner ist, und Djalu wählt noch einmal Erikas Handynummer.

Minus 25 Sekunden

»Allahu Akbar« will Atta sagen, aber seine verkniffenen Lippen lassen keinen Laut durch. »Gott ist tot!«, sagt stattdessen Chelis, und Attas schwitzige Hand wäre fast vom Steuerknüppel gerutscht.

Das Leuchten ist nichts anderes als Effusas Vulva. Aber das kann man aus der Entfernung bestenfalls erahnen.

Trotzdem flüstert Atta »Fotze!« und windet sich.

Ausgerechnet, Junge, dir bleibt aber auch nichts erspart! Ausgerechnet jetzt,

wo du denkst, in Gottes offene Arme zu fliegen, so was … tz … tz … tz …

Minus 20 Sekunden

[…]