Der Ring des Nymphaliten – Leseprobe

Das Auge des Betrachters steht bildstabilisiert über einer Wüste, deren überzeichnete Horizontlinie das klare, tiefgründige Ultramarinblau des wolkenlosen Himmels vom leuchtenden Kupferrostrot der menschenleeren Erde trennt; ein Rot wie geschaffen, die olivgrünen, an den Blattspitzen ausbleichenden Gebüschtupfer malerisch zu grundieren. Das Gesträuch ist mit beinahe geometrischer Regelmäßigkeit in alle Richtungen hingepinselt; ansonsten hie und da noch ein dürrer, weißgerippiger Eukalyptus; abgestorben, noch bevor aus ihm was werden konnte, krüppelig zwischen bizarren Steinformationen, die wie die blutverkrusteten Finger vergrabener Untoter gen Himmel ragen, vielleicht sogar zeigen, letztlich aber doch nicht so aufdringlich, als dass das Auge daran hängen bliebe.

Spektakulärer der Himmel selbst: So wie das Rot der Erde unbeschreiblich ist, ist auch sein unverhangenes Blau. Es taucht aus einem hellen, fast weißen Licht am Erdenrand empor, um schon nach wenigen Höhenmetern Farbe aufzunehmen und alsbald in ein Chagall’sches, vom dunkelgrünen Widerschein ferner Ozeane getragenes Urblau zu transzendieren, bevor es sich hoch oben – und das am helllichten Tage – in der von den Sternen ungehindert durchdrungenen Schwärze des Alls verliert.

»Die Sache ist die, dass die Außerirdischen ja da waren … also, nicht in grauer Vorzeit, ich bin ja nicht von Däniken oder so, sondern neulich, kürzlich, also in ein paar … Jahren … ganz offiziell, als Besucher, mit Besuch beim Präsidenten von USA und all dem, was man so erwarten würde.«

»Sie meinten: VOR ein paar…«

»Nein (lacht) … das klingt jetzt vielleicht etwas absurd, aber sie sind demnächst hier gewesen. Was sie aber nicht mehr tun werden, also zu kommen. Also, sie werden nicht IN ein paar Jahren zu uns kommen. Im Jahr zweitausendneun wird es so wenig Außerirdische geben wie alle anderen Jahre davor oder danach. Es ist sozusagen vorbei: Sie sind zweitausendneun gekommen, auch wenn zweitausendneun für uns noch in der Zukunft liegt. Aber sie sind bereits gekommen und werden es demzufolge nicht mehr tun.«

»…?«

»Offiziell. Inoffiziell – ist die Welt so wenig außerirdischenfrei wie … wie … der Mond oder was weiß ich. Natürlich sind sie immer noch unter uns. Oder schon wieder … werden sie … unter uns sein … demnächst.«

»Sie werden mir zustimmen müssen, dass kein Mensch versteht, was Sie da sagen …«

Hat man sich sattgesehen, fällt die zweispurige asphaltierte Straße auf, die, vom unteren rechten Blickwinkel kommend, diagonal nach links oben schnurgerade in die Ferne führt – wie eine anthropogene Zäsur des Unberührten, die trotzdem nicht den Eindruck vermittelt, jemals von echten Autos befahren zu werden. Ein eher mystischer als profaner Umstand mag das schwarze Band als Relikt einstiger Zeiten so gut erhalten haben, von Menschen will man angesichts der Erhabenheit da unten nichts wissen.

Oder doch? Plötzlich meint man, Musik zu hören, für einen kurzen Moment sogar eine zwar ferne, aber üppige Orchesterversion von Richard Strauss’ »Also sprach Zarathustra«, dem zentralen Motiv des Films »2001«, aber da war die Fantasie wohl schneller als das Ohr. Tatsächlich ist es still – unheimlich still, und da ist ja auch nichts, was diese Stille hätte unterbrechen können. Der Wind vielleicht, Wüstenwind kann aufdringlich laut sein, könnte, aber hier ist kein Wind. Die Luft steht. Es ist die nie geatmete Luft eines langen, heißen Tages, die sich jetzt langsam abkühlt, je tiefer die Sonne sinkt.

Die Sonne?

Man sieht sie nicht, aber sie dürfte sich – wie an der Ausrichtung der langen, scharf konturierten Schatten zu vermuten ist – irgendwo hinter einem befinden.

»Natürlich. Sie haben ja recht! Das ist ja auch … wir müssen dazu unsere Sprache und das an diese Sprache gefesselte Denken befreien. Diese Vorstellung von Zeit, aus der wir unser Präteritum, Präsens und das Futur ableiten. Ganz zu schweigen vom Konjunktiv. Es ist innerhalb dieses Denksystems unlogisch, ein zukünftiges Ereignis als bereits geschehen zu verstehen. Und noch unlogischer ein mögliches, also ein möglicherweise in der Zukunft stattfindendes Ereignis als zugleich geschehen wie ungeschehen zu betrachten. Besonders, wenn sein Geschehensein quasi die zwingende Voraussetzung für sein Ungeschehen ist.«

Eine cineastisch erträgliche Weile bleibt alles so, wie es ist.

Australien? Australien.

Und dann, nachdem man an diesem zeitlosen Frieden auch die eigene Zeit verloren hat, hört man plötzlich doch etwas. Kaum wahrnehmbar, aber zweifelsohne: ein helles, singendes Pfeifen, wie von einer Panflöte, immer wieder von der Stille unterbrochen, und erneut auftönend, langsam deutlicher werdend, unklar, ob sich das eigene Hören an das Pfeifen herankalibriert oder das Pfeifen tatsächlich an Lautstärke zunimmt. Zugleich fangen jetzt auch die Abermillionen lanzettlicher Blättchen der Büsche an, silbrig zu flirren, und – was nicht fehlen darf – lose zerknitterte Knäuel erwachen zum Leben und rollen beinahe schwerelos hüpfend und tanzend über den Wüstenboden. Zwangsläufig assoziiert man dieses heimatlose Gewächs, diese knistertrockenen, blattlos holzigen Kugeldisteln, die botanisch keine Disteln sind, aber wer weiß schon deren botanischen Namen? Jeder kennt die entwurzelten Steppenläufer, die durch alle Weltgegenden rollen, welche verlassen, trocken und öde sind, begleitet vom Geräusch des untröstlichen Windes.

Und da ist er, der Wind, der endlich einsetzt, noch lau, aber ausreichend, nicht nur für die Vegetation, sondern auch für das Spiel an der Orgel aus leeren und halbleeren Whiskyflaschen, die da unten inmitten eines – ja was? – Quadrats in mehreren Reihen beieinanderstehen. Man muss allerdings fast senkrecht hinabschauen, um dieses kubistisch-artifizielle Implantat aus Holz überhaupt wahrzunehmen.

Das Quadrat ist auf den ersten Blick eines von zwei diagonal versetzten Quadraten, in Lage und Proportion unwillkürlich an die Ground-Zero-Formation der berühmten Twin-Towers erinnernd, doch weit gefehlt. Tatsächlich ist das zweite Quadrat nur der Schatten des ersten, verbunden mit diesem über vier die Kanten (und nicht die Ecken!) schneidenden Linien, den horizontalen Schatten von vier vertikalen Stützen, womit sich das hölzerne, ergo echte, als in der Luft schwebend, vielmehr getragen erweist.

So strange ist das in die unberührte Wüste Gesetzte, dass es sich der Erkenntnis quasi widersetzt. Doch – hat man sich der Existenz dieser rustikal-archaisch geformten Konstruktion aus grauen Balken einmal vergewissert – stellt man fest, dass diese zwar recht eigentümlich aussieht, aber keiner übernatürlichen Erklärung bedarf:

Stehen vier aufrechte Holzkreuze im Quadrat zueinander, und zwar so, dass die Querbalken an den Ecken aneinanderstoßen und – von oben gesehen – so was wie Seitenlinien bilden, die den Raum, der so entsteht, scheinbar schließen, der aber natürlich nicht geschlossen ist. Die einzigen Vertikalen sind die vier aufrecht stehenden Längsbalken, welche die jeweilige Mitte einer jeden Seitenwand markieren, und die – in den Proportionen eines lateinischen Christuskreuzes – mit etwa sechs, sieben Metern Höhe noch zwei, zweieinhalb über die Querbalken hinausgehen, was man aber erst sieht, wenn man sie nicht mehr senkrecht von oben, sondern – langsam hinabgleitend – aus der Schräge betrachtet. Diese Kreuze also aus vergrautem, ungehobeltem und verzogenem Kantholz zwei- beziehungsweise vierteilen sozusagen jede der vier imaginären Fassaden dieses Kubus’, dessen Ecken und Kanten dafür unsichtbar bleiben. Im Zentrum ein Haufen Steine, ein zerbröseltes Oval bildend, unscheinbar, würde man nicht zugleich »Grab« assoziieren.

Die Whiskyflaschenorgel befindet sich an einer dieser Nichtwände, am Fuße eines Kreuzstammes, drei, vier Reihen à fünfzehn, zwanzig Flaschen, unterschiedlich hoch befüllt mit eher Regenwasser als Alkohol, zudem einige liegend, verstreut auf dem Boden, aber keine außerhalb dieses sakralen Raumes, der auf einer Grundfläche von kaum zwanzig Quadratmetern mitnichten sakral ist: in einer der Nichtecken ein Stapel Kartons, notdürftig mit einer staubig durchsichtigen Plastikplane abgedeckt, deren eines Ende sich im Wind immer wieder knisternd erhebt. Und eine der liegenden Flaschen bewegt sich, rollt mit jedem Windstoß eine Vierteldrehung in die eine Richtung, um dann wieder in die andere zurückzupendeln und jedes Mal das Geräusch zu machen, das rollende Flaschen auf Sandboden eben machen.

Der flüsternde Wind, die knisternde Plane und die hohl knirschende Flasche begleiten das melancholisch willkürliche Spiel der Orgel, das ohne Organisten auskommt und doch die Seele berührt.

Mehr ist da auch nicht, der Steinhaufen, die Flaschen, die Kartons, die Plane, alles innerhalb des Kubus’, und zwar so ausnahmslos, dass man tatsächlich dessen Wände zu sehen meint, wie aus Glas oder sonst wie unsichtbar, aber eben doch vorhanden. Außerhalb nichts, unberührte Natur, Wüste, und man selbst, irgendwie. Außen vor.

»Sagen wir mal: Zeitreisen sind nicht prinzipiell völlig unmöglich.«

»…«

»Schauen Sie …«

»…«

»Hier …«

Während man beinahe wie ein Kind vor dem Vierkreuz wartet, bis … da fällt noch etwas auf: ein Holzbrett. Direkt am Fuß einer der Stützen, sicher irgendwann mal heruntergefallen, halb drin, halb außerhalb des imaginären Raums, und aus der Mitte ragt verbogen ein fast völlig weggerosteter Nagel. Auf dem Brett ein kaum noch lesbarer Schriftzug, eingeritzt oder eingebrannt, aber jetzt völlig ausgewittert und mit dem Restholz verwaschen: vielleicht ein Name? Cla… irgendwas. Cla… A… oder nein, E… und am Ende ein …o? Und ein Datum. Kleinere Buchstaben, eher zwei Daten: beide Neunzehnhundertirgendwas. Und während man noch versucht, etwas zu erkennen, scheint sich das Licht zu ändern. Es wird diesig, die kräftigen Farben verblassen, die Fernsicht trübt ein. Kurz wähnt man sich in aufkommendem Nebel, und wie man sich hilfesuchend umschaut, ist da ein imposanter Termitenhügel, und, ach ja, ein weiteres Geräusch hat eingesetzt, ein unpassendes, aber vertrautes Geräusch, ein Klappern, das heutzutage keiner mehr kennt, und doch weiß jeder: So klingen mechanische Schreibmaschinen, wenn sie in engen Dachkammern von frierenden Schriftstellern mit gichtigen Fingern behauen werden.

Der, der hier tippt und schreibt, entspricht so gar nicht diesem Bild, und zugleich irgendwie doch: Da sitzt ein alter schwarzer Zottel, ein sogenannter Ureinwohner, Haut und Haar von Farbe und Konsistenz wie rostlos verwittertes Eisen, grau-schwarz und darüber staubweiß gepudert, ganz brüchig, rissig und zugleich zäh, ein Mann wie das Pendant zum Holz des Kreuzes, er sieht aus, als hätte er diesen Ort seit einer Ewigkeit nicht verlassen. Er ist ein Traditional Aborigine, nackt, und auf der Brust bemalt mit weißen Strichen, darüber ein Vollbart und ein Krokodilszahn durch die Nasenflügel gezogen, und die Augen wie Knöpfe, wie von einem Kobold. Seine Blicke sind ebenso durchdringend wie nicht von dieser Welt, zugleich stumpf und übermäßig wach, sowohl deliriös als auch ohne Hoffnung, ergeben und ebenso wild.

Der Mann sitzt mit blankem Hintern an den Termitenhügel gelehnt, die Beine ausgestreckt, und auf den Oberschenkeln balanciert er ein Stück Pappe, auf dem die schon vernommene Schreibmaschine wackelt. Eine kleine Reiseschreibmaschine, ein nicht unbedingt nostalgisches Teil, aber doch kultig, es ist eine mintgrün-metallic lackierte Hermes Baby von Paillard-Bolex, wie auf dem Etikett zu lesen ist, vermutlich Sechziger- oder Siebzigerjahre, handlich jedenfalls, und der Mann tippt, als ginge es um sein Leben.

Um was auch sonst?

[…]

»Dat hier, dat is’ der Gully, aus dem se … hier … aus dem se raus sind …«

Dokuformat.

Man sieht – viel zu kurz – die Frau, die das sagt, unscharf nur, und schon ist der besagte Gully im Fokus, ein Straßeneinlauf, nein, kein Einlauf, kein Gully, das ist ein Schachtdeckel, rund, Durchmesser siebzig Zentimeter oder so, Beton mit gusseisernen Beschlägen, wie sie überall in den Straßen zu finden sind.

»Da sind se also raus, einer nach’m ander’n, hundert solche Leute. Fast hundert jengfalls, soll’n dat gewesen sein.«

»Und Sie haben das gesehen?« Den Fragesteller sieht man nicht. Aber die Stimme, die kennt man.

»Ja, sach’ ich doch. Ich!«

Die Frau, wieder im Bild, ist kurz vor Aufgabe eines Kampfes gegen das Alter. Die Schwarzfärbung der schulterlangen, dünnen Haare ist um drei, vier Zentimeter rausgewachsen ins Graue, die Augen zwar mit etwas Kajal nachgezogen, der Lippenstift schwarz, aber beides nur nachlässig aufgetragen, und die Falten im Gesicht hat sie gar nicht erst versucht zu kaschieren. Ihre Figur bleibt unter weiten, bunten Klamotten verborgen, ein wenig Middle Age, wie es gerade modern ist, und ihre Haltung das Gegenteil von gerade. Man sieht ihr übrigens an, dass sie dieses Interview schon des Öfteren gegeben hat.

»Also, ich wa’ die Erste, die die gesehen hat. War mittem Hund draußen, so um elf, und hier war ja Baustelle, also da, am Schacht, am Gully, da war der Deckel auf und diese Absperrdinger drum rum. Und ein Sandhaufen … da, da vorne, und ich den Hund laufen gelassen, dass der mal macht, und da … da hör’ ich so Geräusche. Wie so’n Knistern. Und andere Geräusche, wie wenn einer … gurgelt, Wasser gurgelt oder so. Und weil ich denk’, da wär’ wat mit der Baustelle, ein Schlauch im Gully kaputt oder so, bin ich also dahin und plötzlich – wupp! – steht da einer vor mir. Nackich! So’n nackter dürrer Spargel, so was von dürre, als wär der direkt aus’m KZ raus. Ganz blass, bleich und dürre, und keine Haare auf’m Kopp.«

Schneller Schnitt. Man sieht verwackelte Aufnahmen von Menschen, junge Männer und Frauen, billig bekleidet, Bierflaschen aus Plastik, Leute, die um etwas herumstehen und laut rufen, teils lachen, teils grölen, johlen, es ist Nacht und das Kunstlicht der Straßenlaterne unterwirft alles einem insektenfreundlichen Gelb. Und dann, Schwenk, sieht man die nackten Kerle: die genauso ausgemergelt sind, wie die Frau sie beschrieben hat. Und nur wegen des Kunstlichts sind sie gelb statt weiß. Nochmals Schnitt, man sieht aus anderer Perspektive, wie diesen Leuten, einem nach dem anderen, aus dem Schacht herausgeholfen wird. Das kreisrunde, dunkle Loch im Asphalt, ein flachgetretener Sandhaufen, am Loch zwei Männer, markige Typen, unrasiert, und einer mit Zigarette im Mund, Qualm, Augenblinzeln, der andere eine Kapuze auf. Sie greifen hinunter, in die Schachtöffnung, wo die nächste Kreatur erscheint. Sie streckt die dürren Ärmchen aus, die Hände irgendwie froschig, der Blick ängstlich, oder flehentlich, und strange, really strange, und trotzdem, trotz dieser Fremdartigkeit eine Stimmung, wie man sie sich bei der Rettung verschollener Bergleute vorstellt. Decken werden gebracht, in die sie sich hüllen, diese seltsamen Menschen, die insbesondere sehr seltsame Augen haben, sehr große, sehr, sehr große Augen, wie in einem Comicheft, so groß.

Ja, sind das etwa Außerirdische? Man kennt ja genug Alienfilme, -comics und -heftchen, um diese hier als welche zu identifizieren, die von den Sternen kommen. Und doch, man will so was nicht glauben …

Schnitt, Off-Stimme des Interviewers: »Das ist ja nicht weit von hier, wo die jetzt leben, nicht wahr?«

Die Frau, angesprochen, schaut einen an, dann schräg über einen hinweg, typische Straßeninterviewsituation, zeigt in eine Richtung, der Blick folgt, die Straße hinunter, eine gesichtslose Flachdachsiedlung, mehrstöckige Billighäuser, mehrfach saniert, aufgestockt, viel Grün drum herum, aber dennoch: der Zerfall nur zu gut sichtbar. Man sieht natürlich nicht, wo sie jetzt wohnen, die Fremden, man hört nur die Stimme der Frau: »Da runter, immer grad’aus am Ende der Straße, unten am Waldrand, jengfalls, da is’ dat Sperrgebiet.«

Der Kamerablick die Straße hinunter, Fahrzeuge, ein Lieferwagen, der wie in Zeitlupe auf einen zurollt.

»Hausen«, sagt die nicht mehr sichtbare Frau.

»Bitte?«

»Sie ham ›Leben‹ gesacht. Ich würd’ ja eher sagen, die hausen da. Da, wo die getz hausen. Also die hausen. Die.«

Der Lieferwagen hält an.

Schnitt.

Ein Bauzaun, verbeulte Maschen, ein Polizist, der aufpasst.

Hinter dem Zaun ein Betonkasten, Siebzigerjahre, die Fassade einst weiß, Eternitplatten oder so, nun völlig verdreckt und man erkennt schnell, warum. Das ganze Gelände ist verdreckt. Offener Rohboden, dazwischen niedriges Gestrüpp, ein Bulldozer steht da wie zur Abschreckung, wie um sie, die Fremden, davon abzuhalten, sich hier – ja was? – auszubreiten? Und der Dreck der Fassaden rührt daher, dass fast alle Fenster zugemauert sind – nein, nicht gemauert, aber irgendwie zugemörtelt. Mit Lehm. Und unter jedem, wirklich jedem Fenster Spuren von abgeflossenem Lehm oder Dreck, Fließspuren, wie getrocknete Tränen aus einstigen Augen, die nun keine mehr sind. Stumpf ist das fensterlose Haus, und dahinter sollen sie leben? Hausen?

Schnitt.

Ein Acker, ein zerstörter, ein umgewühlter Acker. Ein Kartoffelacker, ein paar Knollen verraten auch dem Unkundigen, was für Pflanzen das sind. »Wildschweine« dürfte das Erste sein, was einem dazu einfällt. Der Blick geht hoch, ein Waldrand, Sommer, grünes, dichtes Laub, Schwenk langsam nach links, man sieht ein paar wenige Leute, stehen am Waldrand, ein Förster oder Jäger, ein Bauer, jedenfalls einer in einem blauen Overall, eine mittelalte Frau mit roter Jacke und … schon ist man weiter, da waren noch zwei oder drei, egal, der Blick geht nun über die offene Landwirtschaft. Die Schäden sind beeindruckend, aber nicht katastrophal. Ungefähr die Hälfte des relativ kleinen Feldes ist verwüstet. Das dahinterliegende Getreidefeld dagegen unberührt. Wildschweine mögen kein Korn?

»Es sind immer nur Kartoffeln«, sagt eine Stimme, die nicht Teil des Geschehens ist, sondern live, echt. Jemand kommentiert das Filmmaterial.

Der Blick hat mittlerweile eine Perspektive erreicht, die etwa entgegengesetzt des Waldrands liegen müsste. Stadtrand, und sofort erkennt man – etwas abgelegen vom Rest – dieses lehmverschmierte Haus, diesen verwahrlosten Block.

»Soll das heißen«, fragt eine andere Stimme (eben die, die man schon zur Genüge kennt), »die … also die dort graben die aus? Die … Kartoffeln? Es sind doch Kartoffeln?«

»Ja, und: ja. Man vermutet das.«

Der Block. Langsam zoomt sich das Bild heran. Es wackelt, es wird pixelig, und weil Lehmfenster und abgeflossene, getrocknete Lehmbrühe ohnehin unscharf ineinander übergehen, ist das Gebäude von hier aus nur noch ein brauner Klumpen – mit durchaus geometrischer Gesamtkubatur, ein rechteckiger Kasten zwar, aber trotzdem.

»Wann hat man das letzte Mal einen von denen gesehen?«

»Seit Monaten nicht mehr, keinen mehr …«

»Aber das geht doch nicht! Die Behörden … die müssen sich doch irgendwie melden und so?!«

»Ja, die haben Sozialhilfe bekommen, also Bezugsscheine, für Lebensmittel, und dieses Haus stand leer, sollte saniert werden, da hat man sie dann untergebracht. Und Kleidung gegeben, die waren ja alle nackt gewesen.«

»Alle. Nackt …?«

»Ja, hier … Sie kennen doch die Bilder, überall im Netz …«

»Trotzdem unglaublich.«

»Und wie sie aussehen, entweder krank oder …«

»Außerirdisch.«

»Ja, ja, das glauben auch viele. Ein gefundenes Fressen für solche Leute. Nur dass Außerirdische eigentlich von oben kommen sollten, oder?« (lacht, was mehr wie ein Husten klingt)

Man sieht – unscharf – nun auch den Zaun, der das Gebäude weiträumig umgibt. Am rechten Rand ein Polizeiauto, Typ Kleinbus.

»Jedenfalls haben die sich so einigermaßen integriert, wie man so schön sagt. Haben sich bekleidet, und nach den ersten Rangeleien mit der lokalen Bevölkerung, sprich Jugend, et cetera, et cetera sogar … wie soll ich sagen, haben sie sich verdeckt oder so, mit Sonnenbrillen, Perücken, Schminke. Um nicht ganz sofort aufzufallen … nicht besonders gut, und … wenn ich das mal so sagen darf, nicht besonders originell, jedenfalls hat man in der Stadt trotzdem schnell gemerkt, ob das welche aus dem Bau waren.«

»Bau?«

»Das Haus eben, der Wohnblock. Der heißt hier einfach: Bau.«

»In dem sie nicht leben, sondern hausen?«

»Hausen? Wenn Sie meinen … jedenfalls, vor …«

»Ja und Kinder? Was ist mit Schule und …«

»Sie haben keine Kinder.«

»Ja … jaja, ich habe das gehört, aber … glauben will man’s ja nicht.«

Schnitt. Man sieht Bildschirm-Icons für »Pause«, »Laden« und »Play«, ein Klick, dann die nächste Sequenz: »Hier, das ist eine neuere Aufnahme. Ich habe den … Bau … besichtigen dürfen.«

Man sieht den sogenannten Bau. Diesmal aus einer nahen Perspektive. Ein bisschen unheimlich ragt das Gebäude auf. Frontal der typisch gedrungene Eingang eines Plattenbaus, irgendwie in die Fassade hineinverschachtelt. Das rechteckige niedrige Vordach aus Beton und/oder Stahl hat amorphe Seitenwände bekommen, aus Lehm oder Lehm-Stroh-Gemisch, und obendrauf türmen sich Erdhaufen. Eine Eingangstür ist nicht zu erkennen, der Zugang zum Gebäude ist eher ein Loch, eine Höhle, und der Weg dorthin, der einmal plattiert gewesen sein muss, stakt vor Dreck. Auch rechter Hand eine Fläche, der man kaum noch abnimmt, einmal ein asphaltierter Parkplatz gewesen zu sein. Keine Autos, kein einziges, aber woher auch? Sollten diese Menschen etwa Autos besitzen?

Nun treten mehrere Personen vor die Kamera. Zuerst der, den man bereits kennengelernt hat, der Mann mit Stutzschnurrbart und Brille (und vermutlich Produzent dieser Clips), dann eine Frau, die einen spontan an »Gesundheitsamt«, vielleicht noch »Sozialamt«, aber nein, eher so was wie »Medizinischer Dienst« denken lässt. Und ein weiterer Mann, ein Polizist, nein, kein Polizist, er trägt zwar eine Uniform, die einer Polizeiuniform zum Verwechseln ähnlich sieht, aber auf der Brusttasche der Jacke steht »SECURITA«, also dieser weitere Mann, der einen südländischen Schnurrbart hat, stellt sich neben den anderen vor die Kamera, und der sagt, dass er nun den Bewohnern einen Besuch abstatten wolle, und dass er weiß, dass die nächsten Tage hier möglicherweise die Behörden die Unterkunft schließen wollen, die Bewohner verteilen, und er hätte aber die Erlaubnis der Heimleitung, die Frau nickt – Heimleitung also, aha –, und deshalb wolle er zusammen mit der Leiterin (er nennt ihren Namen) die Räume besichtigen.

Die drei Personen wenden sich ab, dem Haus zu, und gehen zum Eingang, zum Eingang des Baus, und man denkt an einen Dachsbau oder so etwas, vielleicht sogar an die gleichnamige Geschichte von Franz Kafka. Und weil es keine Tür gibt, kann man einfach hineingehen, die Kamera hinterher, dieser Moment, wo die Aufnahmesoftware den Restlichtverstärker zuschaltet, und die Stimme aus dem Dunkeln, die nach der Tür fragt.

»Die ist weg«, sagt die Frau mit einer Stimme, die einschüchtert. »Verschwunden, gleich, kurz nachdem die Leute hier eingezogen sind, da war die Tür weg.«

»Licht?«

»Nein, sie haben die Hauptsicherung ausgestellt.«

»Aber …«

»Genau. Aber. Das versteht keiner. Es ist stockdunkel und …«

»Und wieso haben Sie das nicht verhindert?«

»Haben wir. Aber immer, wenn man wieder weg war, war die Sicherung auch wieder raus.«

Wir folgen dem Strahl einer Taschenlampe, gehen an den Aufzügen vorbei, steigen die Treppe hoch, und wäre das Licht normal, wäre auch dieses Treppenhaus normal, kann man vermuten. Die Wände haben ein paar Schmierereien, aber das scheinen uralte Hinterlassenschaften früherer Bewohner zu sein, ein paar Sprüche, mehrmals das Wort »Sex« und ein, zwei Hakenkreuze. Doch nachdem wir ein Stockwerk geschafft haben, fokussiert die Kamera auf den Zugang zum Aufzug, der offen steht, nicht nur offen steht, sondern wohl gewaltsam aufgerissen und irgendwie verkeilt wurde. Dahinter NICHT die Aufzugskabine, sondern der blanke leere Schacht, mit seinen Kabeln und Drähten, und irgendwie nass offensichtlich.

Die Heimleiterin sieht ihn an, den Mann, schielt zurück in die Kamera. »So ist das in jedem Stock, fast jedem zumindest.«

»Aber wozu?«

»Schauen Sie mal rein.«

Er (jener, welcher) beugt sich in den Schacht, greift vorsichtig vor.

»Aber Vorsicht!«, sagt die Frau. »Dass Sie nicht abrutschen!«

Er fasst irgendwohin ins Halbdunkle, vielmehr Volldunkle, man kann eigentlich kaum wirklich was erkennen, aber er ruft: »Iiiih! Igitt!«

Und seine Stimme aus dem Off ergänzt: »Das war Schleim, eine Art glitschiger Schleim …«

Der Mann im Film hält seine Hand dem Betrachter hin, erst unscharf, überbelichtet, dann reingezoomt sieht man, dass sein Handteller mit etwas Klarem, aber Feuchtem bedeckt ist, wie Speichel oder Gallert. Er riecht daran, rümpft die Nase, »Puh!«, und der, der das hier vorführt, sagt: »Genau, puh, das roch wie – ich habe lange nachgedacht, wonach das eigentlich riecht, irgendwie säuerlich, ein bisschen nach Wald, nach Ameisenbau.«

Ameisenbau? Woher weiß der, wie ein Ameisenbau riecht? Und als ob er mit dieser Frage gerechnet hat, fährt er fort: »Ich habe so eine Kindheitserinnerung, wie ich an einem Ameisenbau spielte und neugierig daran gerochen habe.«

In der Aufnahme sagt die Heimleiterin zu ihrem Securita-Mann: »Leuchten Sie mal hier …«

Sie zeigt in den Schacht, der Mann geht vor, leuchtet hinein, leuchtet nach oben, der Kamerablick folgt. Man sieht, dass der Schacht quasi zugewachsen ist. Mit etwas.

»Also eigentlich war der Geruch nicht eklig«, sagt seine Off-Stimme, »eher erdig, harzig. Waldig. Sehr exotisch … nach dem ersten Schock, in dieser Dunkelheit, mit dem … glitsch … da war der Geruch nicht mehr unangenehm.«

Die Personen in dem Film sprechen nicht. Sie sind überwältigt von dem Anblick eines Gebildes, das an Schimmel erinnert, aber riesig, auch als Laie muss man unwillkürlich an Hausschwamm denken, die Strukturen scheinen sich im Tanz des Lichtkegels bis ganz nach oben – soweit man das überhaupt erkennen kann – auszubreiten. Wie ein halbfester Teig, wenn er vom Löffel fällt und im Fall erstarrt, so hängen sie von Wand zu Wand, die Leitungen und die Elektrik überwuchernd, die amorphen Placken dieses was auch immer.

Der Sicherheitsmann sagt schließlich etwas Unverständliches, ein Ausruf übermannten Entsetzens. Dann ein Schnitt, und dann verlässt man in einem Stockwerk X das Treppenhaus und betritt den Flur. Auch hier alles dunkel. Obwohl die Türen fehlen, selbst die zu den Wohnungen sind einfach weg, nicht da, und trotzdem, die zugemauerten Fenster lassen kein Licht hinein. Allein eine Art Notlicht gibt es. An den Wänden kleben kleine Scheibchen, die, kaum heller als Glühwürmchen, phosphoreszierend leuchten.

Und irgendwo, Gruselfilm, am Ende des Flurs eine unbestimmte Bewegung.

Mauszeiger, Pause.

Was war das? Fragt man sich.

»Ja …«

Einer …?

»Einer von ihnen, ja.«

[…]

Schließlich kann das von der putschenden Fußnote an die Nulllinie platzierte Auge des Betrachters zwischen den Wellenbergspitzen doch noch etwas anderes erkennen als nur den nackten Horizont. Das Boot nähert sich nämlich dem berühmten Land-in-Sicht-Land. Eine riesig große Insel, so endlos weit, wie sich die auftauchende, zwar flache, aber reichlich bizarr strukturierte Küste von links nach rechts über den halben Horizont erstreckt.

Auch ist das Boot nicht mehr allein. Zig, wenn nicht Hunderte Schiffe sind im Kommen oder Gehen, die meisten kleine Kutter oder Barkassen, manche auch lange Frachter und sogar ein kleiner Passagierdampfer. Je näher sich Bart und Clara diesem seltsamen Eiland nähern, desto mehr Betrieb herrscht auf dem Wasser. Ein Kommen und Gehen. Auch der Möwen werden immer mehr. Laut kreischend suchen sie Futter oder was Möwen sonst so tun, sie stieben auf und stürzen hinab, seltener über den Booten, dafür in dichten Wolken an der Küste. Dazwischen Menschen, die keine sind.

Die Küste. Das Land.

Nichts davon ist natürlich oder natürlichen Ursprungs. Was dort als vermeintliche Insel – schwimmend – aneinanderklebt, ist ein Konvolut aus Plastik. Aus Tüten, Rohren, Fässern, Seilen, Stühlen, Tischen, Planen, Folien, Containern, Strumpfhosen, Schuhen, Strohhalmen, Wäsche, Kämmen, Klammern, Zahnbürsten, Tampons, Windeln, Zigarettenfiltern, Verpackungen, Kondomen, Zahnpastatuben, Blumentöpfen, Pflanzbehältern und -paletten, Kinderspielzeug, Kunstblumen, Auto-, Flugzeug-, U-Bahnsitzen, Autositzbezügen, Hausfassadenriemchen, ganzen Hausfassaden, Dachschindeln, Griffen, Henkeln, Dübeln, Unterlegscheiben, Spannschnüren, Fußabtretern, Teppichen, Tapeten, Regenfallrohren, Farbeimern, Farbdosen, Getränkeflaschen, Getränkekisten, Werkzeugkoffern, Werkbänken, Schraubenbehältersortiersystemen, Lichtschaltern, Steckdosen, plastilinen Terrassenbohlen, Watte, Zahnseide, Zahnseidebehältern, Besenstielen, Motorsägegehäusen, sonstigen Handmaschinengehäusen, überhaupt Gehäusen aller Art, Fensterrahmen, unendlich vielen Kunststofffensterrahmen, Plexiglasscheiben, Backpapier, Lippenstiften, Allergikerbettwäsche, Schminkutensilien, Perücken, Gebissen, Stofftieren, Shampooflaschen, Zelten, Zeltgestängen, -heringen und -seilen, Schlafsäcken, Rucksäcken, Fahrradsatteln, Fahrradreifen und -schläuchen, Autoreifen ohne Ende, Isomatten, Thermomatten, Schaumstoffmatten, Schaumstoffkeilen, -rollen, -kissen, -isolierungen, Fassadenisolierungen, Kabelisolierungen, Kassenzetteln, Etiketten, Klebefolie, Isolierband, Frischhaltebeuteln, Gefrierbehältern, Gefrierschubladen, Spülmaschinenrollkästen, Benzinkanistern, Wattestäbchen, Spanngummis, Spangen, Knöpfen, eingeschweißten Strohballen, Spargelfeldabdeckfolien, Regalen, Luftfiltergehäusen, Spoilern, Scheinwerfergehäusen, Gaspedalen, Gartenmöbeln inklusive Gartentruhen und -schränken, Toilettendeckeln, Kunstrasenmatten, Möbelscharnieren, Brillenetuis, Koffern, Taschen, Schulranzen, medizinischen Gerätschaften, Küchenschwämmen, Putzlappen, Mikrofaserputzlappen, Haushalts- und Küchengeräten, Computern, Computerbildschirmen, Zahnrädern, Lagern, Schrauben, Federn, Sicherheitsgurten, Lkw-Abdeckplanen, Implantaten, Gefäßprothesen, Turbinenteilen, Propellern, schusssicheren Westen, Schutzhelmen, Schutzanzügen, Staubmasken, Atemschutzmasken, Beatmungsgeräteschläuchen, Surfbrettern, Segeln, Bootsrümpfen, Polyethylenen, Ethylen-Polyvinylacetaten, Polystyrolen, Polyvinylchloriden, Vinylchlorid-Vinylacetat-Copolymeren, Polyacetalen, Polyetheralkoholen, Epoxidharzen, Polycarbonaten, Alkydharzen, Polyethylenterephthalaten, Polyestern, Polypropylenen, Polypropylen-Copolymeren, Vinylacetat-Copolymeren, Acrylpolymeren, Polyamiden, Harnstoffharzen, Melaminharzen, Aminoharzen, Polyurethanen, Phenolharzen, Silikonen, Celluloseethern, Kautschuken, Latexen, Aalfallen, Fischkisten, Fischkörben und Fischernetzen. Überall und irrsinnig viele Fischernetze, in deren feinem, unzerstörbarem Geflecht sich haufenweise verendete oder noch zappelnde Fische verheddert haben (was wiederum erklärt, warum hier so viele Möwen sind), ferner … ach, es würde Bände füllen.

Das Land also.

Das Land ist eine Insel ist ein Floß. Jedenfalls kein Land. Null Land. Und schon gar nicht ein gelobtes. Aber, wie man vermuten muss, gigantisch groß. Es fehlt zwar jeglicher Vergleich und keine Chance, sich einen Überblick zu verschaffen (f… the revolting Fußnote!), aber wenn man weiß, dass der pazifische Plastikmüllstrudel eher größer als kleiner als zum Beispiel Australien sein soll, dann kann man sich vorstellen, dass Clara und Bart gerade das Gegenteil von Sehnsucht ansteuern. So in etwa.

Schließlich landen sie an. Am Ufer, das kein Ufer ist, an der Kaimauer, die keine Kaimauer ist, an ETWAS, das irgendein bizarr zusammengeknautschtes, ölig verschmiertes ETWAS ist, und das ungefähr einen Meter aus dem Wasser herauskragt, plus/minus im Wellengang, der hier vergleichsweise ruhig ist. Bart vertäut das Boot mit dieser Plastikkante aus Zeug, Taue gibt es ja genug, und dann bittet er die Menschen, die keine sind, um Hilfe, Clara aus dem Boot zu hieven.

Diese Nichtmenschen.

Natürlich hat man längst erraten, um wen es sich handelt. All diese Nichtmenschen sind weiß. Weißer als alle Weißen, die man kennt. Nackt und/oder in Lumpen, Fetzen gekleidet, unzählig zahllos, ein Wimmelbild ausgemergelter dürrer Körper, geschlechtslos und mit riesig aufgerissenen Augen, die zu Tränen rühren. Apathisch stehen, hocken, liegen diese Menschen der anderen Art zwischen und auf Boxen, Containern oder auch nur in zusammengeflickten Zelten oder unter acryloiden Wellblechen, die ihre Behausungen sind.

Auffällig im Übrigen die zahllosen seesackgroßen Beutel, die wie Kokons von allem herabhängen, was irgendwo übersteht und auch nur halbwegs stabil aussieht. Wie Kokons? Nach allem, was man so von ihnen weiß, SIND das Kokons. Schmetterlingsmenschenkokons.

Die, die noch nicht darinnen ihrer Metamorphose harren, die große Mehrzahl also, die noch geschlechtslos im Hier und Jetzt ihres trostlosen Lebens auf den Tag X warten, sie lassen sich nicht lange bitten. Trotz ihres offensichtlichen Erschöpfungszustandes raffen sich gleich fünf, sechs, sieben von ihnen auf, gehen Bart zur Hand, helfen ihm an Land (har har), gleich drei von ihnen springen auf das Boot, begrüßen Clara mit freundlichen Gesten, ergreifen ihren Stuhl, heben ihn mitsamt ihr darin an, tragen sie vorsichtig über das schwankende Boot, heben sie weiter hoch, sodass andere, von der Kante aus, zugreifen können, und mit einem Schwung, der Clara einen Seufzer entlockt, wird sie neben Bart abgesetzt.

Zurück bleibt nur man selbst, unsichtbar für das Geschehen und jetzt erst recht. Man kann ihnen nur nachschauen, wie sie, umringt von neugierigen Nymphaliten, sich ins Innere der künstlichen Insel bewegen. Ein regelrechter Tross, der sich bildet, Clara und Bart verschwinden in der Menge, als hätte man schon lange auf sie gewartet.

Das Boot wird von anderen untersucht, der Füllstand des Diesels überprüft, einer bringt einen Kanister, und man kann sehen, wie geübte Froschhände den Tank nachfüllen.

Später werden Bart und Clara mit ihnen am wärmenden Feuer sitzen, das sie mit salzwasserkonservierten Holzresten, vornehmlich Paletten- und Wrackholz, füttern. Neben dem überall treibenden Plastik ist Holz der andere Stoff, von dem es hier im Überfluss gibt.

In einem Blechtopf wird Kartoffelpüree gekocht, das einzige Irdische, das Nymphaliten mit Gewinn essen können. Und zu trinken gibt es Rum. Davon haben sie sich mehrere herrenlose Fässer gesichert. Sie werden in ihrer unverständlichen Klick- und Zischlautsprache reden, wollen von Clara und auch von Bart, vor allem aber von Clara wissen, wie es so ist in ihrer Heimat. Und Clara wird ihnen – natürlich – die Wahrheit sagen. Nämlich dass da niemand mehr ist, in ihrer Heimat. Jedenfalls in der Version ihrer Heimat, aus der Clara und Leon entkommen sind. Der Mensch hat gründliche Arbeit geleistet, wird Bart ergänzen. Jedenfalls der weiße Mann, diese besondere Subspezies des Menschen.

Die, die mit ihnen am Feuer sitzen, werden noch einmal niedergeschlagen sein, auch wenn sie die Geschichte längst kennen dürften. Mindestens die geheimnisvolle Kundschafterin, die Clara auf ihrem Weg begleitet hat, dürfte ihre Artgenossinnen und Artgenossen ausführlichst in Kenntnis gesetzt haben. Aber alles noch einmal aus einer anderen, zudem terranisch-menschlichen Perspektive zu hören bekommen, von einer, die dort gewesen ist, das ist eben noch mal was anderes. Die meisten der Außerirdischen, die man hier sieht, dürften ohnehin nichts von Nymph wissen. Sie müssen hier geboren sein, auf der Erde, so zahllos, wie sie sind.*

Wie fühlt sich ein Alien, dessen Heimat verloren ist? Nicht viel anders als ein Mensch, als einer vom Planeten Erde, wahrscheinlich. Die Gespräche werden verstummen, und auch Clara wird nicht weiterreden wollen. Zudem werden bei ihr die Wehen einsetzen. Eingeengt in ihrem Rollstuhlsitz wird sie vornübergebeugt die Bauchkugel umfassen. Und Bart wird versuchen, sie zu trösten, ohne wirklich zu wissen, was tun. Ihre Schmerzen werden die vielen anderen Nymphaliten, die, die Clara kaum kennen, und die Clara auch nicht kennt, und die aber dennoch für ihre unglaubliche Empathie bekannt sind, auf den Plan rufen. Sie stehen dicht gedrängt hinter ihr, Hände umfassen ihre Schultern, streicheln ihr Haar, ihren Rücken.

Wenn es wieder geht, wird sie aufschauen. Schweißgebadetes Gesicht einer Hundertjährigen. Die Augen tief innen drin, wie kleine schwarze Murmeln, und man wird sich im selben Moment wie sie der seltsam flatternden Erscheinungen bewusst, die fledermausgleich das Sternenlicht fangen. Es wird eine Weile brauchen, bis man begreift, dass das KEINE Fledermäuse sind. Sondern Menschen. Geflügelte Menschen, kräftige, dunkelhäutige Menschen mit ausgeprägten Geschlechtsorganen und wunderschönen, in allen erdenklichen Farben leuchtenden, schillernden Flügeln, was man erst vor dem leuchtend vollen Mond so richtig sieht. Sie werden lautlos durch die pazifische Nacht schwirren, flattern – und kopulieren.

Während die, die noch nicht so weit sind (es sind die meisten), trotz größter Erschöpfung weiterhin unermüdlich kommen und gehen, von und hin zu den Küsten mit den Booten, die hier an- und ablegen, um Sand zu gewinnen für eine nicht enden wollende Bauwirtschaft, werden die anderen, kaum haben sie ihre Geschlechtsreife erreicht, genauso unermüdlich Nachwuchs, Nachwuchs, Nachwuchs produzieren.

Clara wird, wenn sie diese Fliegenden erst einmal entdeckt hat, auch noch einmal zu den Kokons schauen (die sie bis dahin nicht wirklich als solche wahrgenommen haben dürfte). Sie wird Bart anstoßen und sie ihm zeigen, die Kokons, von denen sich der eine oder andere gerade öffnet, und der eine oder andere frische Phalit herausschlüpft, kaum »jung« zu nennen – geschieht die Metamorphose bekanntlich erst am Ende des Lebens. Clara und Bart werden sie sich putzen sehen, und trocknen, sie werden zusehen, wie sie ihre nunmehr gewaltigen Schwingen öffnen und ausprobieren. Es sind mehr Männer als Frauen, die sich da bereit machen, mit stumpfem, mitleidlosem Blick, doch zielstrebig, kompromisslos und zu allem bereit. Zu allem.

Auf manchen Dächern, auf manchen Masten oder Türmen sieht man nun auch die Heimkehrerinnen – aber nur die weiblichen, die, die ES bereits hinter sich haben. Von der drallen Gier der frisch Geschlüpften ist bei ihnen nichts mehr übrig. Nur noch Schatten ihrer selbst hocken sie unter ihren zerrissenen, schlaff herabhängenden Flügeln, die jeden farbigen Glanz verloren haben. Ihre schwarze Haut ist vertrocknet wie altes Leder, spröde geworden, zerfurcht, und die eine oder andere Wunde zeugt von den unvorstellbaren Kämpfen da oben, unterm Himmel, in deren Verlauf sie befruchtet worden sind und, wie man hört, anschließend ihre Begatter aufgefressen haben wie Spinnenfrauen. Sie stöhnen und ächzen und aus ihren Vaginen tropft ein seltsamer Schleim, den umsichtige Larvenmenschen vorsichtig einsammeln, in kleinen Kunststoffbehältern, von denen der Pazifik genug bereithält.

Und wenn Clara auch nur ein kleines bisschen so gestrickt ist wie man selbst, dann wird sie begreifen, dass sie in dieser Nacht Zeugin eines vollständigen nymphalitischen Lebenszyklus’ geworden ist.