Y
Yosy. Roman.
DERHANK
Roman
eBook
165 Seiten
ISBN-13 978-3-8476-1675-7
4,99 €
erhältlich im Online-Buchhandel
Am Ende seiner Kindheit wird Y in den Stall verbracht. Er verwandelt sich in ein fleischfressendes Pferd und erlebt das Zureiten, den Krieg und seine eigene Hochzeit.
Parabel über das Erwachsen, über Sinn und Sprachlosigkeit, über Macht und Ohnmacht, über Liebe und Triebe und all das.
Der Stall liegt in einer fernen Schwarz-Weiß-Welt, vielleicht im 'Pommernland' aus dem Maikäferlied oder sonst wo. Y verliert sein Sprechvermögen, mutiert zu einem aasfressenden Vierbeiner und wird von 'xandra in Besitz genommen, einer energischen Mitvierzigerin, die ihn mit Hingabe und ununterbrochenem Redefluss zu einer Art Reitpferd ausbildet. Sie verliebt sich gar in ihn, aber Y verlangt es nach Lilli, dem Ackerpferd aus dem Nachbarverschlag, wenngleich er doch nur Elke begatten darf, das unglückliche Nichtschwein, welches von 'xandras Freundin gequält wird. Bei der Wolfsjagd wirft Y , der sonst keine Angst kennt, 'xandra ab - mit schwerwiegenden Folgen. Der Winter wird einsam und lang, und nur der Krieg, der bedrohlich um den Stall kreist, bringt unwillkommene Abwechslung und findet seinen Höhepunkt darin, dass ein von seinem Luftschiff abgesprungener feindlicher Soldat in Y's Box auftaucht. Als der Frühling anbricht und Y endlich zur Hochzeit schreiten darf, glaubt er, seine Sprache wiedergefunden zu haben - doch niemand versteht die gestammelten Versuche, Helmut Kohls Mauerfallrede zu rezitieren.
Und das ist auch gut so.
Leseprobe Y
Kapitel 1 - Wie Yosy in den Stall verbracht wird
Am Ende meiner Kindheit wurde ich, Yossef Pahlke, genannt Yosy, in den Stall verbracht. Es war Sommer und grün, die Säulenpappeln rauschten und man holte mich vom Spielplatz, für den ich zu alt geworden war. Zwei Männer trieben mich mit einer Rute zur Kirmeswiese am Rande unserer Wohnsiedlung. Da stand ein kleiner, rot lackierter Transporter mit offener Ladefläche. Der Fahrzeugtyp war mir unbekannt. Die Fahrerkabine gedrungen, die Kotflügel bauchig, vielleicht ein Oldtimer oder ein osteuropäisches Modell. Und hintendran ein mehrfach geflickter Pferdehänger aus Blech und Holz. Ich sah meine Eltern, die sich mit einem rauchenden Mann unterhielten, offenbar der Fahrer des Wagens. Sein dicker Schnurrbart, die glänzende Seitenscheitelfrisur und die abgewetzte rote Lederjacke wirkten auf mich genauso exotisch oder altmodisch wie sein Fahrzeug.
Der Motor lief bereits.
Ich musste meine Kleidung ablegen. Die zwei Männer, die mich geholt hatten, stießen mir dabei immer wieder den Stock zwischen die Schultern, nicht feste, aber doch unmissverständlich. Es blieb nur wenig Zeit für ein paar kurze Umarmungen; meine Mutter lächelte tapfer, jedoch unter Tränen, und mein Vater, kaum weniger gerührt, kniff mir in die Wange.
Im Hänger musste ich runter auf alle Viere, und man verbot mir, mich jemals wieder aufzurichten. Als ich es dennoch versuchte, legten sie einen Strick um meinen Hals und wickelten Gurte um meinen Bauch, die sie links und rechts an den Wänden vertäuten. Gurte und Strick waren grau, ebenso die Blechwände und sogar das Holzmehl, mit dem der Boden ausgestreut war. Alles war grau.
Mir war grau.
Yosy hätte sich, wenn er schon nicht stehen durfte, gerne hingelegt. Aber die Fesselung hinderte ihn daran. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf Knien und ausgestreckten Händen still zu hocken und seine Situation zu überdenken. Einer der Männer - auch der war grau - gab ihm einen Klaps auf den Rücken, dann wurde die Rampe hochgeschlagen und von außen verriegelt. Yosy war allein.
Ein kleines offenes Fenster vor ihm, zu hoch um durchzusehen, war die einzige Lichtquelle in der Kabine. Yosy starrte mit hängendem Kopf auf seine Hände, die ihre Farbe verloren hatten und ihm seltsam groß erschienen. Die Finger waren lang geworden, lang und knochig und die Zwischengelenke wie angeschwollen. Er hob die Linke vorsichtig an, betrachtete sie, krümmte sie. Wann hatte er das letzte Mal seine Finger angeschaut? Und wann das letzte Mal gekrümmt? Es tat weh, aber das Wehe war auch angenehm, wie die Entspannung nach einem Krampf.
Das Motorenbrummen wurde lauter, ein dumpfer Schlag, als der Gang eingelegt wurde, dann wackelte der ganze Hänger. Yosy verlor das Gleichgewicht, rutschte nach vorne und drückte unwillkürlich seine Klauen in die Späne. Die Gurte verhinderten, dass er zu Boden fiel, aber seine Gelenke knackten, und es klang, als würden sie wie Teile eines Steckpuzzles erst jetzt richtig einrasten. Als Yosy sich wieder gefangen hatte, hob er die flach gepresste Faust erneut vors Gesicht, drehte sie und betrachtete die Haare, die sich auf seinem Handrücken kräuselten. Das Öffnen der Finger war noch schwerer als das Schließen; erst durch Scharren und gleichzeitiges Drücken auf den Boden zog sich die Hand wieder in die Länge.
Das anfängliche Ruckeln, Neigen, Bremsen und Beschleunigen ging bald in ein gleichmäßiges Brummen über. Fahrtwind strich von oben über Yosys Kopf und verfing sich in seinen verfilzten Locken. Ach Mutter, dachte er, ich bin seit Monaten nicht beim Friseur gewesen.
Nach einer Weile schmerzten seine Knie, auf denen sein ganzes Gewicht lag. Yosy sah prüfend an sich hinunter, wollte feststellen, wie viel Spiel seine Beine noch hatten. Stämmig, muskulös, sehnig und drall waren die Oberschenkel geworden, verschwitzt glänzten sie unter drahtigen Haaren wie reife Keulen. Wie graue Keulen. War es das schwache Licht oder war etwas mit seinen Augen? Sein Körper war so grau wie alles.
Yosy verlagerte sein Gewicht nach vorne, stützte sich auf die flachen Riesenhände und zog das rechte Knie an, bis er dahinter seine Zehen erkennen konnte. Die schleppten sich krümmend und spreizend durch die Späne als wären es eingespannte Riesenmaden, die den restlichen Fuß wie einen urzeitlichen Karren hinter sich herzogen. Schließlich hockte Yosy erst rechts und dann auch links auf seinen Ballen, die Fersen hinten hochgezogen.
Er fragte sich, seit wann er so gewaltige Füße hatte. Sprungfüße, mit einem lang gebogenen Spann und haarig. So haarig, wie überhaupt sein ganzer Körper viel behaarter war, als er in Erinnerung hatte. Dabei waren Yosy schon seit einiger Zeit Veränderungen an sich aufgefallen. Und er hatte gewusst, dass die Kindheit zu Ende gehen würde, seine Eltern hatten ihn immer wieder darauf hingewiesen. Aber dass dieses Ende so abrupt sein würde, damit hätte er nie gerechnet. Und dass man ihn dann holen würde, davon war nie die Rede gewesen. Und wenn doch, dann nur zum Spaß, oder als erzieherische Drohung, »du kommst ins Heim!«, oder etwas in der Art, wenn er abends zu lange ausgeblieben war.
Bis heute hatte er immer gedacht, ein durchschnittlicher Junge in einer durchschnittlichen Familie zu sein, die in einer durchschnittlichen Kleinstadt lebte. Einer Stadt im Ruhrgebiet, mit Fußgängerzone, Schlackeberg und Zeche, in der sein Vater arbeitete. Sie bewohnten ein dunkelrotes Reihenhäuschen in einer dunkelroten Reihenhäuschensiedlung neben einem hohen Deich; und dahinter ein müder, schmutziger Bach oder Fluss, den man 'Emscher' nannte, und der immerzu wie altes Obst roch. Yosys Schule war ein riesiger, aber nicht ungewöhnlicher Waschbetonkomplex, nicht anders als andere Schulen, mit farbigen Fensterrahmen und einer Mensa, in der es Hühnerfrikassee und Dampfnudeln gab.
Nie war einer seiner Klassenkameraden abgeholt worden.
Doch als er genauer darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, dass SEINE Kindheit durchaus anders verlaufen war. Anders als die der Anderen. DIE hatte er nämlich gemieden, selbst auf dem Spielplatz, wo er immer in sicherer Entfernung geblieben war. Er war immer randständig gewesen, ohne sogenannte »Freundschaften« oder das, was sein Politiklehrer »soziale Kontakte« nannte. Aber wie die anderen war er jeden Morgen im Unterricht erschienen, und jeden Abend am Esstisch; er hatte in seinem Jugendbett geschlafen oder die Eltern nachts vor dem Fernseher beobachtet.
Es wurde heiß. Durch die Fensterluke kam eine drückende, feuchte Luft, die ihn müde und benommen machte. Als der Wagen anhielt, fiel er nach vorne und hätte sich fast mit dem Hals im Strick verfangen. Die Heckklappe wurde entriegelt und Yosy, der Mühe hatte, nach hinten zu schauen, roch plötzlich rohes Fleisch. Ein nasser Klumpen streifte seinen Schenkel und plumpste in den Staub. Dann zwickte etwas seinen Hintern und zwang ihn, den Kopf zu drehen - gerade so, dass er mit dem linken Auge die Silhouette eines der Männer erkennen konnte. Der eklige, zugleich aber auch seltsam aufregende Geruch drang tief in Yosys Nase. Er spürte den Hunger, den flauen Magen und die allgemeine Schwäche in den Knochen. Den ganzen Tag hatte er noch nichts gegessen, nur zum Frühstück bei den Eltern ein paar Haferflocken in Milch. Der Mann schob den feuchten Klumpen mit dem Bambusstab weiter in seine Richtung und schnalzte mit der Zunge, so, als müsste er Yosy noch ermuntern. Dabei war das nicht nötig, Yosy hätte sich gerne das Stück geschnappt, er war ganz gierig danach. Aber der Strick und die Enge und seine ganze Haltung hinderten ihn daran. Das ließ ihn resignieren, er wollte am liebsten aufgeben, aber der Duft machte seinen trockenen Mund ganz schaumig. Seine schrecklich lange Nase, deren stumpfes Ende er mit beiden Augen sehen konnte, hatte die Nüstern aufgeblasen und schnaubte so sehr, dass Staub aufwirbelte. Diese ihm noch völlig fremde Veränderung betraf im Übrigen nicht nur die Nase. Auch seine Lippen schienen ein ganzes Stück vorgeschoben zu sein. Tatsächlich war sein Gesicht so lang geworden, dass er damit, wenn er den Kopf nur weit genug nach hinten streckte, das Fleisch berühren konnte. Yosy streckte sich also, bis ihm der Strick in den Hals schnitt, und presste seinen Mund in die kühle, weiche Masse. Er drückte sie nieder und zog dann den Kopf sachte zurück, schleifte so das staubige Stück wie einen nassen Lappen durch die Späne. Er musste mehrmals nachhaken, bis er seine vordersten Zähne - winzige, nadelspitze Zähnchen - hineinbohren und den ganzen Klumpen mit einem Ruck heranziehen konnte. Das genügte dem Mann. Er schlug die Klappe wieder hoch und gleich darauf hörte Yosy das schon vertraute Motorbrummen. Diesmal vermochte er sich wesentlich sicherer gegen das Wackeln beim Anfahren zu stemmen.
Das Fleisch, es handelte sich um ein Rippenstück, war längst nicht so frisch, wie er es sich erhofft hatte. Aus der Nähe roch es nach einsetzender Verwesung, und am Fettrand hingen kleine, weiße Maden. Die Enttäuschung wurde größer, als Yosy feststellen musste, dass seine Schnauze kaum in der Lage war, mundgerechte Portionen abzubeißen. Diese wulstigen Lippen waren immer im Weg, und was waren das nur für Zähne?
Die mürbe Konsistenz seiner Mahlzeit machte es immerhin möglich, durch Festbeißen und Hin-und-Her-Schleudern kleine Fetzen herauszureißen. Der erste Bissen war dennoch zu groß, Yosy würgte und kam nicht dazu, auf den Geschmack zu achten. Erst als die ungekaute Masse die Speiseröhre hinunterglitt, empfand er so etwa wie Wohlbehagen. Damit der Rest nicht durch das Geschleuder verloren ging, klemmte ihn Yosy zwischen seine Vorderpfoten. Als er das zweite Mal zubiss, fühlte er die auf dem Fleisch klebenden, trockenen Späne in seinem Speichelschaum. Und er schmeckte das Faulige heraus, was aber nicht so schlimm war, wie befürchtet. Im Gegenteil, gerade DAS war ein - allerdings schauerlicher - Genuss. Sollte er zum Aasfresser geworden sein? Nicht aus Widerwillen, sondern vielmehr wegen dieser ungeheuerlichen Vorstellung beendete er die Mahlzeit nach wenigen Bissen. Den Rest schleuderte er mit einer scharrenden Bewegung der Pfoten nach hinten.
Yosy döste ein, wurde aber jedes Mal wieder wach, wenn sich sein langsam wund scheuernder Hals im Strick verfing. Der pelzige Nachgeschmack machte ihn durstig, und der zunehmende Verwesungsgeruch des Knochens quälte ihn. Ihm wurde schlecht. Er streckte seine Schnauze so gut es ging nach oben; hin zu der Fensterluke, durch die ein heißer, aber wenigstens nicht übel riechender Wind hereinblies. Es gelang ihm, trotz Gurten und Strick, sich so zu dehnen, dass die Spitze seiner Nase die untere Kante der Öffnung berührte. Mit weiteren Anstrengungen schoben sich die Nasenlöcher darüber hinaus, sodass er dem Gestank schließlich entkam. Diese Haltung war schmerzhaft. Seine Hände konnten sich nur auf die Fingerkuppen stützen, sein Rückgrat verspannte und das Fensterblech drückte sich in die Haut zwischen Oberlippe und Nasenansatz. Yosy streckte sich noch mehr, strapazierte Finger und Nacken, bis sich sein Mund ebenfalls aus dem Fenster schob. Dabei zogen sich aber seine Lippen zurück, und der ganze heiße Fahrtwind fegte ihm in den offenen Rachen, kaum gebremst von seinen schmalen Mäusezähnen. Dennoch hielt er es eine Weile aus. In dieser Position konnte er sogar einen winzigen Ausschnitt des grauen Himmels erkennen, und Wolkenfetzen, die über ihn hinweghuschten.
Als es dämmerte, hatte sich die Fensterkante fast bis auf den Unterkieferknochen durchgescheuert, und sein Durst wurde unerträglich. Er zog das Maul über die scharfe Kante zurück in den Hänger. Sein Nacken knackte, als der Kopf abrupt nach unten fiel. Plump landete der seltsame Apparat, der aus seinem Kindergesicht herausgewachsen war, im Staub. Hitze und Durst verursachten nun eine Übelkeit, die Yosy die Sinne raubte. Könnte er sich doch wenigstens hinlegen, dachte er. In dieser Position aber musste er befürchten, das Bewusstsein zu verlieren und sich in dem Strick zu erdrosseln.
Er konzentrierte sich auf die feinen Holzspäne, in denen seine Schnauze lag. Die brannten in der Wunde unterm Kinn und mit jedem keuchenden Atemzug zog er sie tiefer in seine Nasenhöhle hinein. Das damit verbundene Kribbeln beruhigte ihn. Sein Speichel schlug vor den wulstigen, sich immer wieder öffnenden Lippen Blasen, und wenn er mit der Zunge darüber fuhr, schmeckte er die aufgeweichten Späne. Er kaute darauf herum, spuckte sie wieder aus und leckte sie erneut auf. Zugleich machte er mit dem schweren, in die Länge gezogenen Kopf gleichmäßige Kreiselbewegungen, schraubte sich gewissermaßen durch bis zum festen Boden aus ungehobelten Holzplanken. Die rochen moderig - und ein wenig scharf, als hätten sie die Gerüche seiner Vorgänger gespeichert. Yosy drückte die Lippen darauf, bleckte die spitzen Zähne und fing an zu knabbern. Es war leicht, feine Splinte aus dem Holz herauszuschälen, und als er sie mit der Zunge abtastete, spürte er ältere Riefen, von denen er annahm, dass schon andere vor ihm sich mit dem gleichen Spiel die Zeit vertrieben hatten. Er rieb mit Lippen und Nasenflügeln eine kreisrunde Stelle frei, knabberte, leckte, und ab und zu stecke er die Schnauze in den rings umlaufenden Kraterrand aus Staub und Spänen, zog die Luft tief ein, bis es in der Lunge kitzelte, und dann schwenkte er den Kopf zurück und entleerte die Nüstern schnaubend auf dem nackten Holz, was aussah, als würde ein Gewitter über einen Miniaturgebirgssee hereinbrechen. Er wiederholte das unzählige Male, vergaß den beißenden Gestank, die Übelkeit, die Müdigkeit und den Durst.
Ein plötzlicher, stechender Schmerz im Nacken ließ ihn hochfahren. Das Seil spannte um den Hals, Yosy jaulte und schlug unbeholfen mit der Pfote nach der Stelle. Er streifte ein pelziges Insekt, das aus seinem Saugloch herausgerissen wurde und nun panisch zwischen den Hängerwänden umhersurrte. Wie kopflos knallte es von Wand zu Wand, stieß gegen die Decke und gegen Yosys Leib, fand aber weder das Fensterloch noch beruhigte es sich. Yosy gruselte es und die Haare auf seinem Rücken sträubten sich. Er hatte schon als Kind Pferdebremsen nie gemocht, und diese hier war viel größer als alles, was er je gesehen hatte. Diese hier war so fett wie eine ausgewachsene Hummel. Als sie in ihrer Raserei gegen sein Ohr klatschte, wäre er am liebsten davongelaufen.
Doch plötzlich, sie schien unglücklich irgendwo gegengestoßen oder einfach nur erschöpft zu sein, knallte sie direkt vor seiner Nase auf den imaginären Kratersee, lag für eine halbe Sekunde auf dem Rücken, zappelte dann mit ihren Beinchen und versuchte sich durch erneutes Summen wieder aufzurichten. Aber der Brummer schaffte es nicht, schlierte nur wie ein schwarzes Luftkissenboot zwischen den Ufern hin und her und musste immer wieder pausieren. Der Stich im Nacken schmerzte, doch Yosy war auch neugierig, er freute sich geradezu über diese Abwechslung. Durch die Nasenlöcher blies er kräftig aus und verwirbelte das Insekt mit einer ganzen Ladung aus feinem Holzmehl. Nun war es unmöglich zu fliehen, der Staub drückte sich dem Kerbtier zwischen Flügel, Beine, Fühler und Härchen. Aber immerhin stand es jetzt auf den Füßen und versuchte ein paar Schritte. Die Stechfliege durchquerte Yosys Krater und blieb unschlüssig vor dem Rand stehen. Dann begann der Aufstieg, der ihr leichter fiel, als Yosy erwartet hatte. Also blies er ihr erneut seinen Atem entgegen, simulierte gewissermaßen den stürmischen Wind des Hochgebirges. Zudem häufelte er von außen behutsam zusätzliches Material gegen den Ring, drückte dagegen, wodurch die Hänge steiler wurden - und die Fliege schließlich nach unten rutschte und es von Neuem versuchen musste. Systematisch vervollständigte Yosy sein Werk, was nicht ganz einfach war, da - obwohl die Fahrt insgesamt sehr ruhig verlief - auch kleinere Erschütterungen die Berge immer wieder einstürzen ließen. Andererseits schaffte es die Fliege auch nie bis auf den umlaufenen Grat, der scheinbare Wettlauf gegen Yosys Landschaftsgestaltung war also von vorneherein aussichtslos. Und als es ihr doch einmal gelang, blies er ihr etwas Staub vor die Facettenaugen, was sie orientierungslos wieder hinuntertorkeln ließ.
Irgendwann fiel Yosy auf, dass er die Fliege kaum noch erkennen konnte. Seine Spielgefährtin war so erschöpft, dass sie sich nicht mehr bewegte. Es war dunkel geworden. Die Fahrgeräusche hatten sich geändert, es ruckelte, der Hänger neigte sich zur Seite, wurde langsamer, richtete sich wieder auf und stand still.
Yosy beugte den Kopf hinab, bis er mit der weichen Nasenspitze das Holz spürte. Seine Zunge, die ihm nun erstaunlich lang vorkam, strich er behutsam in einer Kreiselbewegung einmal rund um den Kratersee, bis sie die Fliege erfasste, die an seinem halb vertrockneten, klebrigen Speichel hängen blieb. Er rollte die Zunge ein, zog sie zurück, rollte sie im Mund wieder aus und schmiegte das kaum noch strampelnde Insekt sanft gegen den Gaumen, wo er es langsam zergehen lassen wollte.
[...]
Yosy. Roman.
DERHANK
Roman
eBook
165 Seiten
ISBN-13 978-3-8476-1675-7
4,99 €
erhältlich im Online-Buchhandel
Am Ende seiner Kindheit wird Y in den Stall verbracht. Er verwandelt sich in ein fleischfressendes Pferd und erlebt das Zureiten, den Krieg und seine eigene Hochzeit.
Parabel über das Erwachsen, über Sinn und Sprachlosigkeit, über Macht und Ohnmacht, über Liebe und Triebe und all das.
Der Stall liegt in einer fernen Schwarz-Weiß-Welt, vielleicht im 'Pommernland' aus dem Maikäferlied oder sonst wo. Y verliert sein Sprechvermögen, mutiert zu einem aasfressenden Vierbeiner und wird von 'xandra in Besitz genommen, einer energischen Mitvierzigerin, die ihn mit Hingabe und ununterbrochenem Redefluss zu einer Art Reitpferd ausbildet. Sie verliebt sich gar in ihn, aber Y verlangt es nach Lilli, dem Ackerpferd aus dem Nachbarverschlag, wenngleich er doch nur Elke begatten darf, das unglückliche Nichtschwein, welches von 'xandras Freundin gequält wird. Bei der Wolfsjagd wirft Y , der sonst keine Angst kennt, 'xandra ab - mit schwerwiegenden Folgen. Der Winter wird einsam und lang, und nur der Krieg, der bedrohlich um den Stall kreist, bringt unwillkommene Abwechslung und findet seinen Höhepunkt darin, dass ein von seinem Luftschiff abgesprungener feindlicher Soldat in Y's Box auftaucht. Als der Frühling anbricht und Y endlich zur Hochzeit schreiten darf, glaubt er, seine Sprache wiedergefunden zu haben - doch niemand versteht die gestammelten Versuche, Helmut Kohls Mauerfallrede zu rezitieren.
Und das ist auch gut so.
Leseprobe Y
Kapitel 1 - Wie Yosy in den Stall verbracht wird
Am Ende meiner Kindheit wurde ich, Yossef Pahlke, genannt Yosy, in den Stall verbracht. Es war Sommer und grün, die Säulenpappeln rauschten und man holte mich vom Spielplatz, für den ich zu alt geworden war. Zwei Männer trieben mich mit einer Rute zur Kirmeswiese am Rande unserer Wohnsiedlung. Da stand ein kleiner, rot lackierter Transporter mit offener Ladefläche. Der Fahrzeugtyp war mir unbekannt. Die Fahrerkabine gedrungen, die Kotflügel bauchig, vielleicht ein Oldtimer oder ein osteuropäisches Modell. Und hintendran ein mehrfach geflickter Pferdehänger aus Blech und Holz. Ich sah meine Eltern, die sich mit einem rauchenden Mann unterhielten, offenbar der Fahrer des Wagens. Sein dicker Schnurrbart, die glänzende Seitenscheitelfrisur und die abgewetzte rote Lederjacke wirkten auf mich genauso exotisch oder altmodisch wie sein Fahrzeug.
Der Motor lief bereits.
Ich musste meine Kleidung ablegen. Die zwei Männer, die mich geholt hatten, stießen mir dabei immer wieder den Stock zwischen die Schultern, nicht feste, aber doch unmissverständlich. Es blieb nur wenig Zeit für ein paar kurze Umarmungen; meine Mutter lächelte tapfer, jedoch unter Tränen, und mein Vater, kaum weniger gerührt, kniff mir in die Wange.
Im Hänger musste ich runter auf alle Viere, und man verbot mir, mich jemals wieder aufzurichten. Als ich es dennoch versuchte, legten sie einen Strick um meinen Hals und wickelten Gurte um meinen Bauch, die sie links und rechts an den Wänden vertäuten. Gurte und Strick waren grau, ebenso die Blechwände und sogar das Holzmehl, mit dem der Boden ausgestreut war. Alles war grau.
Mir war grau.
Yosy hätte sich, wenn er schon nicht stehen durfte, gerne hingelegt. Aber die Fesselung hinderte ihn daran. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf Knien und ausgestreckten Händen still zu hocken und seine Situation zu überdenken. Einer der Männer - auch der war grau - gab ihm einen Klaps auf den Rücken, dann wurde die Rampe hochgeschlagen und von außen verriegelt. Yosy war allein.
Ein kleines offenes Fenster vor ihm, zu hoch um durchzusehen, war die einzige Lichtquelle in der Kabine. Yosy starrte mit hängendem Kopf auf seine Hände, die ihre Farbe verloren hatten und ihm seltsam groß erschienen. Die Finger waren lang geworden, lang und knochig und die Zwischengelenke wie angeschwollen. Er hob die Linke vorsichtig an, betrachtete sie, krümmte sie. Wann hatte er das letzte Mal seine Finger angeschaut? Und wann das letzte Mal gekrümmt? Es tat weh, aber das Wehe war auch angenehm, wie die Entspannung nach einem Krampf.
Das Motorenbrummen wurde lauter, ein dumpfer Schlag, als der Gang eingelegt wurde, dann wackelte der ganze Hänger. Yosy verlor das Gleichgewicht, rutschte nach vorne und drückte unwillkürlich seine Klauen in die Späne. Die Gurte verhinderten, dass er zu Boden fiel, aber seine Gelenke knackten, und es klang, als würden sie wie Teile eines Steckpuzzles erst jetzt richtig einrasten. Als Yosy sich wieder gefangen hatte, hob er die flach gepresste Faust erneut vors Gesicht, drehte sie und betrachtete die Haare, die sich auf seinem Handrücken kräuselten. Das Öffnen der Finger war noch schwerer als das Schließen; erst durch Scharren und gleichzeitiges Drücken auf den Boden zog sich die Hand wieder in die Länge.
Das anfängliche Ruckeln, Neigen, Bremsen und Beschleunigen ging bald in ein gleichmäßiges Brummen über. Fahrtwind strich von oben über Yosys Kopf und verfing sich in seinen verfilzten Locken. Ach Mutter, dachte er, ich bin seit Monaten nicht beim Friseur gewesen.
Nach einer Weile schmerzten seine Knie, auf denen sein ganzes Gewicht lag. Yosy sah prüfend an sich hinunter, wollte feststellen, wie viel Spiel seine Beine noch hatten. Stämmig, muskulös, sehnig und drall waren die Oberschenkel geworden, verschwitzt glänzten sie unter drahtigen Haaren wie reife Keulen. Wie graue Keulen. War es das schwache Licht oder war etwas mit seinen Augen? Sein Körper war so grau wie alles.
Yosy verlagerte sein Gewicht nach vorne, stützte sich auf die flachen Riesenhände und zog das rechte Knie an, bis er dahinter seine Zehen erkennen konnte. Die schleppten sich krümmend und spreizend durch die Späne als wären es eingespannte Riesenmaden, die den restlichen Fuß wie einen urzeitlichen Karren hinter sich herzogen. Schließlich hockte Yosy erst rechts und dann auch links auf seinen Ballen, die Fersen hinten hochgezogen.
Er fragte sich, seit wann er so gewaltige Füße hatte. Sprungfüße, mit einem lang gebogenen Spann und haarig. So haarig, wie überhaupt sein ganzer Körper viel behaarter war, als er in Erinnerung hatte. Dabei waren Yosy schon seit einiger Zeit Veränderungen an sich aufgefallen. Und er hatte gewusst, dass die Kindheit zu Ende gehen würde, seine Eltern hatten ihn immer wieder darauf hingewiesen. Aber dass dieses Ende so abrupt sein würde, damit hätte er nie gerechnet. Und dass man ihn dann holen würde, davon war nie die Rede gewesen. Und wenn doch, dann nur zum Spaß, oder als erzieherische Drohung, »du kommst ins Heim!«, oder etwas in der Art, wenn er abends zu lange ausgeblieben war.
Bis heute hatte er immer gedacht, ein durchschnittlicher Junge in einer durchschnittlichen Familie zu sein, die in einer durchschnittlichen Kleinstadt lebte. Einer Stadt im Ruhrgebiet, mit Fußgängerzone, Schlackeberg und Zeche, in der sein Vater arbeitete. Sie bewohnten ein dunkelrotes Reihenhäuschen in einer dunkelroten Reihenhäuschensiedlung neben einem hohen Deich; und dahinter ein müder, schmutziger Bach oder Fluss, den man 'Emscher' nannte, und der immerzu wie altes Obst roch. Yosys Schule war ein riesiger, aber nicht ungewöhnlicher Waschbetonkomplex, nicht anders als andere Schulen, mit farbigen Fensterrahmen und einer Mensa, in der es Hühnerfrikassee und Dampfnudeln gab.
Nie war einer seiner Klassenkameraden abgeholt worden.
Doch als er genauer darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, dass SEINE Kindheit durchaus anders verlaufen war. Anders als die der Anderen. DIE hatte er nämlich gemieden, selbst auf dem Spielplatz, wo er immer in sicherer Entfernung geblieben war. Er war immer randständig gewesen, ohne sogenannte »Freundschaften« oder das, was sein Politiklehrer »soziale Kontakte« nannte. Aber wie die anderen war er jeden Morgen im Unterricht erschienen, und jeden Abend am Esstisch; er hatte in seinem Jugendbett geschlafen oder die Eltern nachts vor dem Fernseher beobachtet.
Es wurde heiß. Durch die Fensterluke kam eine drückende, feuchte Luft, die ihn müde und benommen machte. Als der Wagen anhielt, fiel er nach vorne und hätte sich fast mit dem Hals im Strick verfangen. Die Heckklappe wurde entriegelt und Yosy, der Mühe hatte, nach hinten zu schauen, roch plötzlich rohes Fleisch. Ein nasser Klumpen streifte seinen Schenkel und plumpste in den Staub. Dann zwickte etwas seinen Hintern und zwang ihn, den Kopf zu drehen - gerade so, dass er mit dem linken Auge die Silhouette eines der Männer erkennen konnte. Der eklige, zugleich aber auch seltsam aufregende Geruch drang tief in Yosys Nase. Er spürte den Hunger, den flauen Magen und die allgemeine Schwäche in den Knochen. Den ganzen Tag hatte er noch nichts gegessen, nur zum Frühstück bei den Eltern ein paar Haferflocken in Milch. Der Mann schob den feuchten Klumpen mit dem Bambusstab weiter in seine Richtung und schnalzte mit der Zunge, so, als müsste er Yosy noch ermuntern. Dabei war das nicht nötig, Yosy hätte sich gerne das Stück geschnappt, er war ganz gierig danach. Aber der Strick und die Enge und seine ganze Haltung hinderten ihn daran. Das ließ ihn resignieren, er wollte am liebsten aufgeben, aber der Duft machte seinen trockenen Mund ganz schaumig. Seine schrecklich lange Nase, deren stumpfes Ende er mit beiden Augen sehen konnte, hatte die Nüstern aufgeblasen und schnaubte so sehr, dass Staub aufwirbelte. Diese ihm noch völlig fremde Veränderung betraf im Übrigen nicht nur die Nase. Auch seine Lippen schienen ein ganzes Stück vorgeschoben zu sein. Tatsächlich war sein Gesicht so lang geworden, dass er damit, wenn er den Kopf nur weit genug nach hinten streckte, das Fleisch berühren konnte. Yosy streckte sich also, bis ihm der Strick in den Hals schnitt, und presste seinen Mund in die kühle, weiche Masse. Er drückte sie nieder und zog dann den Kopf sachte zurück, schleifte so das staubige Stück wie einen nassen Lappen durch die Späne. Er musste mehrmals nachhaken, bis er seine vordersten Zähne - winzige, nadelspitze Zähnchen - hineinbohren und den ganzen Klumpen mit einem Ruck heranziehen konnte. Das genügte dem Mann. Er schlug die Klappe wieder hoch und gleich darauf hörte Yosy das schon vertraute Motorbrummen. Diesmal vermochte er sich wesentlich sicherer gegen das Wackeln beim Anfahren zu stemmen.
Das Fleisch, es handelte sich um ein Rippenstück, war längst nicht so frisch, wie er es sich erhofft hatte. Aus der Nähe roch es nach einsetzender Verwesung, und am Fettrand hingen kleine, weiße Maden. Die Enttäuschung wurde größer, als Yosy feststellen musste, dass seine Schnauze kaum in der Lage war, mundgerechte Portionen abzubeißen. Diese wulstigen Lippen waren immer im Weg, und was waren das nur für Zähne?
Die mürbe Konsistenz seiner Mahlzeit machte es immerhin möglich, durch Festbeißen und Hin-und-Her-Schleudern kleine Fetzen herauszureißen. Der erste Bissen war dennoch zu groß, Yosy würgte und kam nicht dazu, auf den Geschmack zu achten. Erst als die ungekaute Masse die Speiseröhre hinunterglitt, empfand er so etwa wie Wohlbehagen. Damit der Rest nicht durch das Geschleuder verloren ging, klemmte ihn Yosy zwischen seine Vorderpfoten. Als er das zweite Mal zubiss, fühlte er die auf dem Fleisch klebenden, trockenen Späne in seinem Speichelschaum. Und er schmeckte das Faulige heraus, was aber nicht so schlimm war, wie befürchtet. Im Gegenteil, gerade DAS war ein - allerdings schauerlicher - Genuss. Sollte er zum Aasfresser geworden sein? Nicht aus Widerwillen, sondern vielmehr wegen dieser ungeheuerlichen Vorstellung beendete er die Mahlzeit nach wenigen Bissen. Den Rest schleuderte er mit einer scharrenden Bewegung der Pfoten nach hinten.
Yosy döste ein, wurde aber jedes Mal wieder wach, wenn sich sein langsam wund scheuernder Hals im Strick verfing. Der pelzige Nachgeschmack machte ihn durstig, und der zunehmende Verwesungsgeruch des Knochens quälte ihn. Ihm wurde schlecht. Er streckte seine Schnauze so gut es ging nach oben; hin zu der Fensterluke, durch die ein heißer, aber wenigstens nicht übel riechender Wind hereinblies. Es gelang ihm, trotz Gurten und Strick, sich so zu dehnen, dass die Spitze seiner Nase die untere Kante der Öffnung berührte. Mit weiteren Anstrengungen schoben sich die Nasenlöcher darüber hinaus, sodass er dem Gestank schließlich entkam. Diese Haltung war schmerzhaft. Seine Hände konnten sich nur auf die Fingerkuppen stützen, sein Rückgrat verspannte und das Fensterblech drückte sich in die Haut zwischen Oberlippe und Nasenansatz. Yosy streckte sich noch mehr, strapazierte Finger und Nacken, bis sich sein Mund ebenfalls aus dem Fenster schob. Dabei zogen sich aber seine Lippen zurück, und der ganze heiße Fahrtwind fegte ihm in den offenen Rachen, kaum gebremst von seinen schmalen Mäusezähnen. Dennoch hielt er es eine Weile aus. In dieser Position konnte er sogar einen winzigen Ausschnitt des grauen Himmels erkennen, und Wolkenfetzen, die über ihn hinweghuschten.
Als es dämmerte, hatte sich die Fensterkante fast bis auf den Unterkieferknochen durchgescheuert, und sein Durst wurde unerträglich. Er zog das Maul über die scharfe Kante zurück in den Hänger. Sein Nacken knackte, als der Kopf abrupt nach unten fiel. Plump landete der seltsame Apparat, der aus seinem Kindergesicht herausgewachsen war, im Staub. Hitze und Durst verursachten nun eine Übelkeit, die Yosy die Sinne raubte. Könnte er sich doch wenigstens hinlegen, dachte er. In dieser Position aber musste er befürchten, das Bewusstsein zu verlieren und sich in dem Strick zu erdrosseln.
Er konzentrierte sich auf die feinen Holzspäne, in denen seine Schnauze lag. Die brannten in der Wunde unterm Kinn und mit jedem keuchenden Atemzug zog er sie tiefer in seine Nasenhöhle hinein. Das damit verbundene Kribbeln beruhigte ihn. Sein Speichel schlug vor den wulstigen, sich immer wieder öffnenden Lippen Blasen, und wenn er mit der Zunge darüber fuhr, schmeckte er die aufgeweichten Späne. Er kaute darauf herum, spuckte sie wieder aus und leckte sie erneut auf. Zugleich machte er mit dem schweren, in die Länge gezogenen Kopf gleichmäßige Kreiselbewegungen, schraubte sich gewissermaßen durch bis zum festen Boden aus ungehobelten Holzplanken. Die rochen moderig - und ein wenig scharf, als hätten sie die Gerüche seiner Vorgänger gespeichert. Yosy drückte die Lippen darauf, bleckte die spitzen Zähne und fing an zu knabbern. Es war leicht, feine Splinte aus dem Holz herauszuschälen, und als er sie mit der Zunge abtastete, spürte er ältere Riefen, von denen er annahm, dass schon andere vor ihm sich mit dem gleichen Spiel die Zeit vertrieben hatten. Er rieb mit Lippen und Nasenflügeln eine kreisrunde Stelle frei, knabberte, leckte, und ab und zu stecke er die Schnauze in den rings umlaufenden Kraterrand aus Staub und Spänen, zog die Luft tief ein, bis es in der Lunge kitzelte, und dann schwenkte er den Kopf zurück und entleerte die Nüstern schnaubend auf dem nackten Holz, was aussah, als würde ein Gewitter über einen Miniaturgebirgssee hereinbrechen. Er wiederholte das unzählige Male, vergaß den beißenden Gestank, die Übelkeit, die Müdigkeit und den Durst.
Ein plötzlicher, stechender Schmerz im Nacken ließ ihn hochfahren. Das Seil spannte um den Hals, Yosy jaulte und schlug unbeholfen mit der Pfote nach der Stelle. Er streifte ein pelziges Insekt, das aus seinem Saugloch herausgerissen wurde und nun panisch zwischen den Hängerwänden umhersurrte. Wie kopflos knallte es von Wand zu Wand, stieß gegen die Decke und gegen Yosys Leib, fand aber weder das Fensterloch noch beruhigte es sich. Yosy gruselte es und die Haare auf seinem Rücken sträubten sich. Er hatte schon als Kind Pferdebremsen nie gemocht, und diese hier war viel größer als alles, was er je gesehen hatte. Diese hier war so fett wie eine ausgewachsene Hummel. Als sie in ihrer Raserei gegen sein Ohr klatschte, wäre er am liebsten davongelaufen.
Doch plötzlich, sie schien unglücklich irgendwo gegengestoßen oder einfach nur erschöpft zu sein, knallte sie direkt vor seiner Nase auf den imaginären Kratersee, lag für eine halbe Sekunde auf dem Rücken, zappelte dann mit ihren Beinchen und versuchte sich durch erneutes Summen wieder aufzurichten. Aber der Brummer schaffte es nicht, schlierte nur wie ein schwarzes Luftkissenboot zwischen den Ufern hin und her und musste immer wieder pausieren. Der Stich im Nacken schmerzte, doch Yosy war auch neugierig, er freute sich geradezu über diese Abwechslung. Durch die Nasenlöcher blies er kräftig aus und verwirbelte das Insekt mit einer ganzen Ladung aus feinem Holzmehl. Nun war es unmöglich zu fliehen, der Staub drückte sich dem Kerbtier zwischen Flügel, Beine, Fühler und Härchen. Aber immerhin stand es jetzt auf den Füßen und versuchte ein paar Schritte. Die Stechfliege durchquerte Yosys Krater und blieb unschlüssig vor dem Rand stehen. Dann begann der Aufstieg, der ihr leichter fiel, als Yosy erwartet hatte. Also blies er ihr erneut seinen Atem entgegen, simulierte gewissermaßen den stürmischen Wind des Hochgebirges. Zudem häufelte er von außen behutsam zusätzliches Material gegen den Ring, drückte dagegen, wodurch die Hänge steiler wurden - und die Fliege schließlich nach unten rutschte und es von Neuem versuchen musste. Systematisch vervollständigte Yosy sein Werk, was nicht ganz einfach war, da - obwohl die Fahrt insgesamt sehr ruhig verlief - auch kleinere Erschütterungen die Berge immer wieder einstürzen ließen. Andererseits schaffte es die Fliege auch nie bis auf den umlaufenen Grat, der scheinbare Wettlauf gegen Yosys Landschaftsgestaltung war also von vorneherein aussichtslos. Und als es ihr doch einmal gelang, blies er ihr etwas Staub vor die Facettenaugen, was sie orientierungslos wieder hinuntertorkeln ließ.
Irgendwann fiel Yosy auf, dass er die Fliege kaum noch erkennen konnte. Seine Spielgefährtin war so erschöpft, dass sie sich nicht mehr bewegte. Es war dunkel geworden. Die Fahrgeräusche hatten sich geändert, es ruckelte, der Hänger neigte sich zur Seite, wurde langsamer, richtete sich wieder auf und stand still.
Yosy beugte den Kopf hinab, bis er mit der weichen Nasenspitze das Holz spürte. Seine Zunge, die ihm nun erstaunlich lang vorkam, strich er behutsam in einer Kreiselbewegung einmal rund um den Kratersee, bis sie die Fliege erfasste, die an seinem halb vertrockneten, klebrigen Speichel hängen blieb. Er rollte die Zunge ein, zog sie zurück, rollte sie im Mund wieder aus und schmiegte das kaum noch strampelnde Insekt sanft gegen den Gaumen, wo er es langsam zergehen lassen wollte.
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