Erwachen
und sich wiederfinden in einem anderen Körper,
als dem erinnerten,
und allmählich begreifen,
dass man nicht mehr man selbst ist.
Und es keinen Gott, keine Seele, kein Ich und auch sonst nichts gibt, das dem Leben einen Sinn verleiht, welcher über einen selbst erdachten hinausgeht.
Allein die Liebe ist noch für ein Wunder gut ...
Der Zwilling
DERHANK


Roman
Hardcover
620 Seiten
ISBN: 978-3-9817782-0-5
21,00 €

oder als

eBook
ISBN 978-3-7380-5039-4
6,99 €

erhältlich im Online-Buchhandel


»Wir machen Sie unsterblich!«

Der größte aller Menschheitsträume ist wahr geworden: Jeder, der es sich leisten kann, lässt sein Gehirn scannen, damit bei Bedarf - im Todesfall - die GESELLSCHAFT® das gespeicherte Ich reinkarniert. Doch dann geschieht ein furchtbarer Fehler: Thomas V. erwacht eines Tages im Körper von Leon P., im Körper eines Fremden also - obwohl er im Original ebenfalls noch existiert. Leon P. wurde zwar nach einem tödlichen Unfall wiederbelebt, doch die GESELLSCHAFT® hat versehentlich das falsche Bewusstseins-Backup in dessen Kopf gepflanzt.

Thomas begreift, er ist nur eine Kopie seiner selbst, die man nur durch Auslöschung ungeschehen machen kann. Ohne seine wahre Identität preiszugeben, spielt Thomas mit - spielt den Anderen, als wäre er es selbst. Er bekämpft den Ekel vor seinem fremden Körper, versucht, die nie gekannte Ehefrau zu lieben und sogar den schrecklichen neuen Vater zu akzeptieren, der sich für den Fall des eigenen Ablebens einen Ersatzkörper in Indien reserviert hat. Und tatsächlich, trotz vermeintlich eklatanter Erinnerungslücken wird Thomas als Leon schließlich wahr- und angenommen.

Aber so sehr er sich auch bemüht, es zieht ihn immer wieder zurück in sein altes Leben - das jedoch besetzt ist von dem, der er einst gewesen zu sein glaubt: vom echten Thomas, der nichts von der Kopie seines Ich in einem Fremden weiß. So wird Thomas II zum heimlichen Stalker seiner selbst. Als dann noch eine längst verloren geglaubte Liebe wieder auftaucht, eskaliert die Situation. Und die GESELLSCHAFT® sieht sich genötigt, ihren Fehler wiedergutzumachen.

-

In einer nahen Zukunft ist der medizinische Fortschritt dank Gentechnik, künstlicher Organe und hochsensitiver Prothesen in der Lage, im Todesfall jeden Menschen, und sei er noch so alt, krank oder verletzt, wiederherzustellen. Einziger Schwachpunkt bleibt das Gehirn, das binnen weniger Minuten irreversible Schäden nimmt, weshalb eine Wiederbelebung zwar den Körper zurückholt, nicht aber das, was wir unter dem Wort 'Ich' verstehen.
Erst die Entdeckung des 'morphocerebralen Feldes' verspricht den Durchbruch in die Unsterblichkeit. Dank einer digital gespeicherten Momentaufnahme des Bewusstseins lässt sich nun auch das Gehirn eines Verstorbenen nachzüchten, sodass der Mensch in Gänze wiederaufersteht.

Doch ist der, der dann erwacht, wirklich noch der, der er zuvor gewesen ist? Wann ist das Ich noch dasselbe Ich? Was ist es, was uns Persönlichkeit, Individualität, Identität verleiht? Wo bleibt die unverwechselbare Seele, wenn es den Neurowissenschaften gelingt, Kopien unserer selbst anzulegen? Und was sagt eigentlich Gott dazu?

Für Thomas, den ZWILLING, zerreißen bei der Suche nach seinem ich-bin-der-ich-bin die transzendenten Vorstellungen des Menschen wie illusionistische Vorhänge - als wären sie nur dazu geschaffen, die abgründigen Untiefen der Ichfalle zu verschleiern. Denn jenseits unserer Selbsttäuschung ist nichts: kein Gott, keine Seele, nicht einmal ein konsistentes Ich und auch sonst nichts, das über den Mahlstrom aufblitzender Wahrnehmungen hinauszeigt. Allein die Liebe ist noch für ein Wunder gut, aber auch die kann nur den retten, der nicht an ihr verzweifelt.




Leseprobe Der Zwilling


Sylvie liebt Leon

Leon, ach du mein wilder Leon.
Staubwedeln auf seiner Gitarre, im Musikzimmer, wo alles rumliegt, und Sylvie nicht staubwedeln müsste, weder als Putz- noch als Hausfrau, Staubwedeln ist eigentlich ein Tick und hat was mit Aneignen zu tun, sich die Wohnung in Besitz nehmen, das ganze Haus, wenn keiner da ist, denn der Junge trifft sich heute mal auswärts (ein Wunder), das Haus wäre aber genauso leer, wäre er hier, nein, das ist gemein, ich sollte so nicht über meinen Jungen denken, Jungs sind so, in dem Alter usw., und mein anderer Junge ist aber auf dem Heimweg, mein großer starker Junge Leon; ach du mein Leon.
Sylvie wedelt Staub, wo fast kein Staub ist, sie wedelt mit dem altmodischen Erbstück von anno Großmama, ein Stab aus fast schwarz gedunkeltem Holz und ebenso schwarzen, noch wunderbar erhaltenen, dicht gebundenen Straußenfedern, sie wedelt zwischen den unzähligen bunten elektrischen Effektgeräten, die in einem offenen Instrumentenkoffer anein­andergereiht liegen, sie wedelt zwischen den Kabeln und Steckern, sie wedelt an Mikrofonständern und Gitarrenhaltern, sie wedelt an Röhrenverstärkern, die so groß sind wie Wäschetruhen, an kleineren Amps und an Mischpulten, sie wedelt an Kopfhörern, Kabeltrommeln, Mikrofonen und an einem Aufnahmegerät, und sie wedelt an ihren eigenen Instrumenten, meine Flöten, denkt sie ein bisschen sentimental, ihre großen Blockflöten, die in einem Flötenständer stehen, und ein versuchsweise angeschafftes Didgeridoo, das sie auch spielt, nicht besonders gut, die Zirkulationsatmung will nicht bei ihr, Zirkulationsatmung ist wie gar nicht atmen, wie nicht atmen und trotzdem nicht ersticken, Zirkulationsatmung ist wie den Moment anhalten, wie Zeit anhalten und in der angehaltenen Zeit so was wie eine eigene Zeit spielen, so ist der Klang, den sie mag, den sie aber selbst nicht beherrscht auf dem Didge. Sylvie wedelt den imaginären Staub von dem australisch bunt bemalten Stamm aus Eukalyptusholz. Leons Gitarrenspiel ist so ähnlich, sie haben das Didge deswegen gekauft, um gemeinsam zu spielen, seine zeitangehaltene Elektrizität, und sie den zeitangehaltenen Atem.
Sollte nicht sein, leider, aber ihre Flöten schaffen das auch, und mit den Flöten ist sie gut, besonders mit den großen tiefen, der Bassflöte zum Beispiel, oder der Schalmei, ein Stiefkind in der Flötenreihe, so wie das Didge, aber die Schalmei spielt Sylvie göttlich, sagt jedenfalls Leon. Mein Beitrag ist klein, denkt sie, aber wenn sie zusammenkommen oder Konzerte geben, in kleinen Klubs und am liebsten bei Leuten zu Hause, Kammerkonzerte im Wohnzimmer, dann bin ich ich, dann ist Sylvie ganz bei sich, ganz glücklich, dann bilden Gestern, Heute und Morgen einen Punkt. Einen einzigen Punkt. Vielleicht liebe ich Leon manchmal deswegen so sehr, dass es wehtut. Was nicht normal ist, nach so langer Zeit, wer hat schon das Glück, einen Ehemann nach 16 Jahren immer noch so zu lieben, das ist nicht normal, das ist das Glück.
Denkt Sylvie.
Und: Ich könnte mich jetzt ausziehen. Und stattdessen die Schürze anziehen, die weiße mit Rüschen, und sonst nichts, und mich von ihm ertappen lassen, beim Wedeln, beim Wedeln mit nacktem Hintern, sie stellt sich vor, sie hätte ihre Sachen bereits ausgezogen, sie wedelt weiter und in ihrer Fantasie wedelt sie auf diese Art wie nackt, immer weiter und weiter, was immer unsinniger ist, das Wedeln, weil doch alles längst staubfrei ist, aber das macht nichts, sie tanzt durch das kleine Musikzimmer, und in ihrer Fantasie kommt Leon nach Hause und kommt die Treppe hinauf und dann erwischt er sie in flagranti, und er bestraft sie dafür, ein bisschen, was natürlich kein Bestrafen ist, wie auch kein Erwischen, sie fantasiert sich ja ihn und keinen anderen, aber trotzdem hat es dieses wie Verbotene, dieses Erwischtwerden, und Bestraftwerden, und dann fesselt er sie, ans Bett oder überhaupt fesselt er sie, immer noch, immer wieder bin ich von dir gefesselt, und ich dich auch, wir zwei sind voneinander gefesselt, und manchmal darf auch sie ihn ans Bett fesseln, und ich muss dann Sachen mit dir machen, dann wird er zum Vulkan, und darum wedle ich nackt, nackt, nackt, sie kneift sich durch die Jeans in ihren Po, als wollte sie testen, ob das ein Nackttraum ist.
Ich könnte mich ja wirklich ausziehen, denkt Sylvie und lacht. Lacht, weil das albern ist, genauso wie es albern ist, jetzt nach links und rechts zu schauen, ob nicht doch jemand da ist, der, gesetzt den Fall, sie zöge sich aus, sie beobachten könnte. Sie schaut auch zum Fenster, und zum Fenster hinaus, aber da sind nur die Blätter der Ulme und keine Möglichkeit für den Nachbarn, zu ihr hineinzusehen. Trotzdem spürt sie an ihren Wangen, dass sie rot geworden ist, sie könnte sich hier ausziehen, und dann muss sie pinkeln vor lauter Erregung. Sie eilt ins Bad, setzt sich auf die Toilette und dann klingelt das Telefon.
Aber Sylvie kann nicht rangehen, so mittendrin.
Und wenn das Leon ist?
Sie kriegt einen Schreck, es klingelt weiter und darum singt sie dagegen an, wie ein Kind, das sich Mut ansingt im Dunkeln, singt irgendwas, etwas, das sie sich selbst ausgedacht hat, vielmehr beim Pinkeln jetzt gerade ausdenkt, und der Klang des Telefons mischt sich in ihre Komposition.
Es hört auf zu klingeln, und Sylvie denkt, dass Leon es hasst, wenn sie nicht rangeht, dafür hätten sie schließlich überall diese schnurlosen Dinger rumstehen! Er regt sich so schnell auf, besonders nach so einer langen Arbeitswoche, und dann denkt sie: Er kommt doch hoffentlich nicht später? Schon wieder mal? Nein, es ist Freitag, heute nicht, er wird angerufen haben, dass er nun losfährt, dann wären das noch zehn Minuten, noch zehn Minuten!, soll ich mich jetzt ausziehen oder nicht? Und nun ist sie ganz hin und hergerissen, ob sie sich ausziehen soll oder nicht, Leon müsste ja gleich da sein, und Lust, Lust hätte sie ja, und wie!
Stattdessen zieht sie sich an, fasst sich noch einmal an den Schlüpfer und drückt ihre Finger ein wenig hinein, ins Feuchte, dann schließt sie hastig die Knöpfe ihrer Jeans, ich muss ihn zurückrufen, er hasst das, wenn nicht, sie geht also hinaus, schaut sich im Flur wieder um, als wäre sie nicht allein, kichert sich selbst zu, ein bisschen nervös, und greift zum Telefon. Auf dem Display steht: Leon. Er war es, wie erwartet, ich ziehe mich also ganz schnell aus und die Schürze an, die hinten offen ist, das wird ihn ablenken vom Wütendsein, es wird ihn wild statt wütend machen, oder - nein - ich rufe ihn doch eben an. Besser ist das.
Sie drückt die Rückruftaste und hält sich das Telefon ans Ohr, es tutet, einmal, zweimal, und dann geht Leon ran.
»Ja!«, sagt er. Nicht 'Ja?', sondern 'Ja!'
Sylvies Herz klopft, und sie ist nicht schnell genug, etwas zu sagen.
»Sugar?«, sagte er, Sugar. Dabei ist seine Stimme noch immer gereizt, aber er bekämpft das. Man hört leise Fahrgeräusche.
»Kommst du?«, fragt Sylvie. Auch sie hat etwas Geladenes in ihrer Stimme. Aber das andere Geladene. Unwillkürlich.
»Sugar«, nochmals er, »ich dachte, wir könnten heute ins Kino, wo Hendrik doch bei seinem Freund übernachtet, vorher was essen gehen und ... weil ich doch morgen ...«
»Mein Löwe ...«, gurrt Sylvie und findet das ein bisschen sehr devot, am Telefon zu gurren. Sie hört das 'Kalack-Kalack-' des Blinkers.
»Ja ...?«, sagt er.
»Komm erst mal nach Hause, ja?«
»Ja, sure, Baby, ...«
Sylvie atmet tief, so tief, dass sie sich selbst im Hörer hören kann. Sogar in seinem Auto müsste man das hören.
»Kommst du?«, im Ausatmen.
»Ja Sugar, ich komme... was ... was hast du denn?«
»Nichts ...« Sex.
»Du bist ja wie auf ...« Jetzt hört sie ihn atmen. Und dass er Gas gibt, als würde er innerlich und äußerlich beschleunigen. Synchron. Und dann macht er: »Mhhh ...«
Sex.
Sylvie kichert: »Komm schnell ...«, sagt sie, mehr ein Seufzen, laut geflüstert und fast ohne Stimme.
»Holla ...«, auch seine Stimme plötzlich erregt, »Sugar, du kleines ... und ob ich komme, I'm coming, ich rase, ich werde dich glei... hhhh... Shit! SHIT!!!«
Entsetzen und undefinierbare Geräusche; es braucht nicht viel Vorstellungsvermögen, um sie als Bremsenquietschen und Aufprall zu interpretieren, ein lauter Knall und etwas wie Splittern oder Aneinanderstoßen, vielleicht sogar noch ein Schrei, aber undeutlich, und alles so schnell und die anschließende Stille so absolut, dass Sylvie nicht mehr weiß, was sie gehört hat. Leon?


Die Verwandlung

Als Thomas Vanderra eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, links und rechts einige Apparaturen, von denen Schläuche, Katheder und Kabel ausgingen und an unsichtbarer Stelle mit ihm verbunden schienen. Insbesondere aber sein Gesicht fühlte sich an wie verformt; von einer ungeordneten Ansammlung aus ihm herauskragender Mundwerkzeuge und Antennen, die ihm hilflos vor den Augen flimmerten.
»Was ist mit mir geschehen?«, dachte er. Es war kein Traum.


Eine fremde Welt betreten

Eine fremde Welt betreten. Sich einen Moment erzwingen, ein Beisichsein, wo nichts ist, als Sichverlieren. Eine fremde Welt, die mich träumen lässt, sie wäre ich.

Eine fremde Welt scheißen. Eine fremde Welt ausscheißen. Sie in Besitz nehmen, indem man sie oder sich in ihr vollscheißt. Darin schwimmen, wie ein Baby, in der eigenen feuchten, wunden Hitze.

Stelle sich mal einen Wurm vor, einen, zum Beispiel, Regenwurm, dem man das eine Ende zertreten hat, versehentlich, und dem man diese zertretene Hälfte abgetrennt hat, abgeschnitten mit einem Skalpell, und der innere Tunnel der gesunden Seite plötzlich wie an einem offenen Ende angekommen ist. Es ist der Moment, sich im Nichts zu verlieren, oder aber als Tunnel gerettet zu werden, indem man einen anderen aufgeschnittenen Wurm nimmt und an ihn andockt, sodass der offene Tunnel des ersten Wurms in den Tunnel des zweiten übergeht, und der erste Wurm sozusagen in dem zweiten weiterkriechen kann. Der Tunnel, das Hohle, ist ein Kriechen in der Zeit, der Tunnel, der sich selbst fortführt in vermeintlicher Kontinuität, der sich selbst in das neue Hohle hineinkriechend macht, das neue Leere gewissermaßen, er selbst ist das Nichts. Das, das fortgesetzt träumt.

Bin ich schon fertig? Bin ich fertiggeschlafen? Habe ich? Ein Film, am Ende, Schlussszene, zwei Männer und eine Frau, nackt, auf einem großen Bett, ach Franka, die Frau war schwanger und der Film ist von Tom Tykwer.
Warum aber erwache ich nicht, wenn ich doch fertig bin? Fertiggescannt. Warum entgleite ich mir immer wieder, ist es so schwer, aus der Tiefenhypnose wieder herauszukommen? Halbe Stunde, nicht länger, hat sie gesagt, die Assistentin, oder war es ein er?, oder wer? Keine zwei Stunden mit Film, du aber hast das Gefühl, schon ewig hier zu liegen. Nicht einmal das Atmen ist spürbar, nur dass immens viel Zeit vergangen ist oder vergeht.
Und plötzlich beschleicht dich ein ganz anderes Gefühl. Eine Ahnung, warum das hier alles so schleppend geschieht. Warum du nicht atmest. Warum du nicht einfach erwachst und aufstehst und nach Hause fährst. Warum du das Gefühl hast, nicht mehr im Schlaflabor zu sein ...

[...]