ich du er sie es
Ein Transhumanistischer Roman
DERHANK
Roman
eBook
231 Seiten
ISBN 978-3-8476-1673-3
4,99 €
erhältlich bei:
oder im Online-Buchhandel
Ein Mann (ich) und eine Frau (du) haben sich seit 50 Jahren nicht gesehen. In der Mitte des 21. Jahrhunderts treffen sie sich wieder und beschließen, von O nach M zu pilgern.
Ein Zwerg (er), ein Jude (sie) und ein Klon (es) spielen im himmeL wie auf Erden Vater Mutter Kind. In einer Welt, die jedem auf seine Art abhandenkommt, werden Engel gesichtet, die möglicherweise aus der Transhumanistischen Singularität stammen. Aber das ist schon fast eine andere Geschichte.
Wir schreiben das Jahr 2039. Die einstigen Schulfreunde Clara und Thomas treffen sich nach einem langen Leben am Vorabend der Technologischen Singularität wieder.
Clara, überzeugte weltflüchtige Katholikin, gehört zu jenen selten gewordenen Dinosauriern, die sich lebenslang konsequent der Benutzung von Computern oder gar Handys verweigert haben. Thomas, mit dem Clara eine alte, nie verwirklichte Liebesgeschichte verbindet, ist ein vielfach gescheiterter, aber noch immer von sich überzeugter und stets um ein kritisches Aneignen der digitalen Technologien bemühter Vagabund, der ebenfalls meint, bei ihr etwas nachholen zu müssen. Und dann sind da noch die 'digital natives' der neuen Zeit: der missgebildete Zwerg Alberich alias Big Jim, der schwarze schwule Jude Aaron alias Vanessa und deren gemeinsame virtuelle Tochter Yu ki ko·chô, die fast nur noch im sogenannten himmeL leben. Doch auch sie verlieren irgendwann die Orientierung in ihrer gleichermaßen echten wie unechten Welt.
ich du er sie es erzählt, was Google, Amazon, Apple und Facebook aus uns machen werden, oder was uns nach Clouds, Drohnen und der NSA-Affäre erwartet. Es geht aber um mehr als um Science oder Fiction. Zwar wirft das satirisch-kritische GLOSSAR einen ultimativen Blick auf eben diese unsere (un)mögliche Zukunft, aber letztlich sind die aufgeworfenen Fragen nach Liebe, Solidarität und den Formen des 'der Welt abhandenkommen's uralt und ewig. Und das Ende dessen, was man 'Geschichte' nennt, erscheint als großes virtuelles Spiel, das mit jeder neuen Runde eine jedesmal neue Wahrheit erzeugt.
Der Roman ich du er sie es spielt in der ZUKUNFT, versteht sich aber im höchsten Maße als GEGENWÄRTIG. Auftauchende Begriffe und Bezeichnungen, die im Wortschatz der 2010er Jahre einen vorerst nur assoziativen Widerhall erzeugen, können im GLOSSAR nachgeschlagen werden, dessen definitorischen Prognosen auch wie eine eigenständige Geschichte gelesen werden können.
Leseprobe ich du er sie es
O
1.
Das Objekt im Himmel. Das Objekt im Himmel war das Erste, was ich sah, als ich ins Freie trat. Das sich von einem undefinierbaren Punkt im stonewashed bleue der horizontal geschichteten Atmosphäre mit einem unterschwelligen, stetig ansteigenden, von kaum merklichen Fehlzündungen des Hauptvergasers nicht wirklich unterbrochenen Brummen allmählich lösende Objekt im Himmel war eine Art Molluske, und zwar von der schrumpeligen Sorte, klumpig, gedrungen, beinahe wässrig oder schlierig; und obwohl der Vergleich hinkt, brauchten die ihre Köpfe hebenden Menschen nicht lange, bis sie das Ding als gigantische Riesenkartoffel identifizierten: an die hundert Meter lang, etwa 25, 30 breit, mit verdorrten Wurzeltrieben, die wie die schlaffen Extremitäten einer Kopffüßlerpuppe über dem Bahnhof von O herabbaumelten.
Ich zog mein END aus der Gesäßtasche und recherchierte, dass das Schrumpelproblem des von einem weltbekannten Tiefkühlpommesfritesoligarchen für sage und schreibe zehn Jahre zum Festpreis gecharteten Werbezeppelins des Typs SOL von einem Loch auf der Oberseite der Nylonhaut herrührte, einem Treffer aus Weltraumschrott, welcher immer häufiger, bei Sonnenstürmen ganz besonders, die Erde heimsucht.
2.
Du träumtest deine Mutter, träumtest, deine Mutter träume dich. Von roter Erde, die bis zum Himmel geht. Dessen Farbe ein so unendlich tiefes Blau ist, dass man darin die Sterne zu sehen glaubt. Das geträumte Gras ist knuspergelb, vertrocknet, und voller geflügelter Ameisen; riesengroße, sodass die Halme sich bis zum Boden neigen und von immer mehr Insekten erklommen werden. Ein Hochzeitsflug am Rande eines Wasserlochs, Hunderte, die aufsteigen, sich suchen, finden, kopulieren und auf ihre Art lieben, und Vögel, die sie jagen und fressen, und Königinnen, die sich nach dem Akt die Flügel abzwirbeln und untertauchen und neue Reiche gründen, und erschöpfte Männchen, die bei ihrer Rückkehr am Nesteingang von ihren flügellosen Schwestern verstoßen werden; eine eigene Welt mit eigenen Geschichten, und ein kleines schwarzes Mädchen, dessen Haut so vollkommen das Sonnenlicht schluckt, dass sie nicht einmal glänzt; des kleinen Mädchens Augen strahlen beim Anblick der aufsteigenden Tiere, deren Schwingen einen unheimlichen Lärm machen - Lärm, der immer schriller wird, ohrenbetäubend, und bevor das Kind sich umdreht, siehst du selbst die Maschine:
Propeller, die sich so schnell drehen, schneller, als ihr kleiner Bumerang, den sie in der Hand hält, jemals gedreht hat, so schnell, dass sie flirrende durchsichtige Scheiben in die Luft malen, und neben der Maschine drei Männer, denen man die Haut abgezogen hat! Männer mit breitkrempigen Hüten und bleichen Bärten, und eine ebenso gehäutete Frau mit Haaren wie aus Feuer, nass und blutädrig, und du weißt, das sind Balanda - auch Gubba, Migaloo, Wajala oder Walypala genannt -, das sind die 'Weißen Menschen', die keine Menschen sind, das sind die Unvollkommenen, die ihre Körper aus rohem Fleisch mit Stoff bedecken müssen, und du willst das Kind warnen, es soll weglaufen, es soll sich verstecken, du rufst, du schreist, aber man kann dich nicht hören, wegen des Heulens der Maschine, auch die Männer rufen, haben ihre Münder weit aufgerissen, aber auch sie kann man nicht hören, und du siehst, wie sie nach dem Kind greifen, unbeholfen, sich gegenseitig behindernd, beinahe tollpatschig, wie spielende Wallabies - aber das ist kein Spiel, Das ist kein Spiel!, schreist du, und endlich begreifst du, dass du selbst das Mädchen bist, das Mädchen, das immer noch strahlt, das immer noch nicht wegläuft, es ist wie gefangen im Lärm der Maschine, und sein Lachen ist in dir festgefroren, und erst als die Männer mit ihren lachlosen Gesichtern das Mädchen fast erreicht haben, sieht es sich suchend um und entdeckt den, nach dem es schon den ganzen Morgen gesucht hat. Da ist er, gar nicht weit, im Schatten eines toten Eukalypten, das Mädchen rennt los und ruft mit der hellen Kinderstimme eines 60er-Jahre-Films: Vater, Vater ...!
Du schreckst hoch.
Auch jetzt, beim Ankleiden, bekommst du jedes Mal Herzklopfen, wenn du nur daran denkst. Du hast im Dunkeln neben dich gefasst, ins Leere, in das, wo immer ein Mann gewesen war. Aber du hast nicht an deinen Mann gedacht.
3.
Mich berührte die ungewollte dermatologische - im wahrsten Sinne des Wortes: - Vielfältigkeit des Objektes auf eine zugleich anheimelnde wie unheimliche Weise, sodass ich ihm meine mitfühlendsten Gedanken hinterherschickte, mich förmlich selbst über die Wolken schwang und beim virtuellen Hinabschauen auf die Ameisenwelt da unten beinahe die Zeit vergaß - und fast zu spät zu meiner Verabredung gekommen wäre.
Bis zum Domplatz - der nicht mehr Domplatz hieß, wie mir mein END mitteilte, der nach der concernation umbenannt worden war, die ihn mitsamt des Doms aufgekauft hatte und bewirtschaftete, ich aber beschloss, ihn weiter Domplatz zu nennen -, bis zum Domplatz waren es noch anderthalb Kilometer, ich könnte die Domlinie nehmen, O hatte sich vor Jahren eine U-Bahn geleistet, aber ich beschloss, zu Fuß zu gehen, denn es war einer dieser frühen Stadtmorgende, wie ich sie liebe: die Geschäfte noch mit sich selbst beschäftigt, die Besenwagen kehrten den Unrat von den Straßen und Eilige tranken ihre schnellen Espressi an den Kaffeeschenken, im Stehen, immer schon mit einem Bein weiter, und das Wetter kündigte einen sonnigen Tag an, die Luft aber war noch kühl und feucht vom nächtlichen Regen, und aus den Gullis dampften süßliche Schwaden, die sich den Gerüchen der Konditorautomaten beimischten. Und am meisten liebe ich es, wenn mir eine Stadt so fremd ist wie diese hier, die meine Geburtsstadt ist; denn nichts ist so fremd wie die Heimat, nachdem man die Welt gesehen hat.
4.
Yu ki ko·chô, die viele Leben hat, bleibt für diesmal stehen. Für einen Blick auf drei Altersgenossinnen, Schulmädchen, sechste, höchstens siebte Klasse, drei mal eng beisammen auf den Drahtgittersitzen der Haltestelle am Hauptbahnhof, fein gezeichnete Wesen und auf New-Nippon-Art germanisch frisiert, das strohige Walkürenhaar zu dicken Zöpfen geflochten, die überproportional großen, chirurgisch geformten Mandelaugen mit Wimpern wie Schmetterlingsflügel, die künstlichen Sommersprossen, die rostrot bemalten Münder, die grellweißen Rüschenblusen, die bunten Krawatten, die kurzen, plüschigen Röcke in pink, himmel und mint und die individuell bedruckten Seidenstrümpfe, die bis über die dünnen, weißen Oberschenkel gezogen sind und in asteroidentauglichen Megaboots verschwinden - die drei Tools sind supercute! Und wie sie da für sich sind, jede ihr FRIEND vor Augen, sich nur hie und da gegenseitig die Screens zeigend, das hat nur wenig von Kindischsein oder Kleinen-Mädchen-Albernheiten. Wären es Jungs, wären das mannbare Penisvergleiche, aber Mädchen vergleichen keine Penisse, Mädchen sind schon in diesem Alter gänzlicher, zeigen sich ihre Freunde und meinen nicht mal die auf den Screens in Text, Ton, Pic oder Vid dargestellten Kontakte, sondern die Screens selbst. Die FRIENDs sind das Wesentliche.
Yukiko wird weitergezogen, als würde das jemand nicht mögen, dieses Verharren und auf fremde Touchs glotzen. »Eifersüchtig?«, fragt sie, und die Stimme in ihrem Ohr lacht.
»Gib mir einen Namen!«, sagt sie, die Stimme.
»Wird es dann was anderes?«
Sie betrachtet ihr rechtes Handgelenk, um das sie ihr eigenes, nagelneues FRIEND gelegt hat - oder um das ES sich geschmiegt hat, von selber. Kein Geschenk, das FRIEND, sondern ein Vorschuss von Papa BIG, Vorschuss und Arbeitsgerät zugleich, eine gerollte Nanofolie, dünn wie Papier, aber weicher, und zugleich fester, ein angenehmer Griff, und obwohl sie so dünn ist, spürt Yukiko einzelne Finger, die das FRIEND irgendwie elektronisch simuliert.
»Was eigenes ...«, antwortet Stimme, die männlich ist, die nur im linken Ohr zu hören ist, was Yukiko immer ein wenig irritiert, aber sie mag sich trotzdem keinen zweiten Stick einsetzen lassen. Ein Ohr muss frei bleiben.
»Was eigenes ...«, wiederholt sie, was spöttisch klingen soll, und wirklich scheint Stimme den Spott zu spüren.
»Du kannst mich nicht immer nur 'Ding' nennen«, sagt Stimme, »ich nenn' dich auch nicht 'Tool'!«
Yukiko überquert die Straße, so spontan, dass der heranhuschende Wagen bremsen muss, dass der sie nur in einer ausgeklügelten Kurve zwischen zwei entgegenkommenden Fahrzeugen umfahren kann, was sogar den vor sich hinkontemplierenden Insassen hinter seiner getönten Smartscheibe aufblicken lässt.
»Warum machst du das?«, fragt Stimme, »ich muss dich darauf hinweisen, dass GOD bei spontanen Richtungswechseln keine Garantie für die persönliche Sicherheit übernimmt.«
»Ding ist doch mein Lebensretter!«, sagt Yukiko und wäre beinahe gegen ein fremdes Tool gelaufen, das weltvergessen nach oben in den Himmel starrt, in den richtigen. Vielleicht lässt es bzw. lässt er (es ist ein Mann) sich gerade ablichten von der über ihnen schwebenden SOL. Sie hätte ihn angerempelt, wäre ihm dessen eigenes FRIEND nicht zu Hilfe gekommen und hätte ihn unsanft beiseite gelenkt; und das ihre, das so gerne endlich einen Namen hätte, flüstert per Stimme nochmals »Yukiko ...?«
Yukiko geht weiter und sieht sich nach dem Tool um. Irgendwas ist nicht really FRIENDig an dem, und sie meint dabei nicht das Äußere, diesen ballonseidenen Rucksack, diesen old school Hut aus Goretexleder, diese funktionslose Brille, diese Survivalklamotten oder diese Reifengummisandalen, aus denen sich gelbe, verwachsene Dinosaurierzehennägel herausschieben, nein, es ist die Art gewesen, wie der ihr ausgewichen ist. Wie als hätte er das selbst getan, also ungeführt, und, na klar, der Opa hatte gar kein echtes FRIEND in der Hand, oder wenn, dann ein uraltes, so ein Brett wie früher. Mit so was muss man natürlich zusehen, wo man bleibt.
»Ist ER das etwa?«, fragt Yukiko und weiß es schon, simultan.
5.
Du ziehst die Wohnungstür zu. Mit einem Gefühl von Auf Nimmerwiedersehen, dabei ist es doch nur für den Tag. Du schließt ab, was kaum geht, weil das Schloss von innen verrostet ist, aber du willst kein neues, kein biometrisches, wie die Flurnachbarn gegenüber, wie alle im Haus, alle haben das jetzt, alle, alle, alle ... du nicht.
Du zerrst an der Lederschlaufe deines Rucksacks, machst die Schnalle um ein Loch enger und dann holst du den Aufzug, ohne nachzudenken, ärgerst dich darüber und gehst, noch bevor sich die Schiebetür öffnet, die Treppe hinunter. Du brauchst keinen Aufzug, in deinem Alter noch lange nicht. Das mit dem Aufzug, das hattest du dir wegen Willi angewöhnt. Das steckt noch so im Blut, dass du ihn jedes Mal holst, jedes Mal vergisst, dass du ihn nicht mehr brauchst. Den Aufzug.
Willi ...
Draußen ist es kalt, es ist Mai, aber dir ist kalt, dir ist ständig kalt in diesem kalten Land, wo der Wind in den Ohren wehtut. Sofort spürst du ihn wieder, den Tubenkatarrh, dein rechtes Ohr rauscht und drückt und fühlt sich an wie zugepfropft. Jetzt krank werden, das fehlt gerade noch, aber in dieser Kälte muss man ja krank werden. Du bist ein Wüstenkind, obwohl du die nie gesehen hast, die Wüste, keine Erinnerungen, nur Träume, Albträume wie letzte Nacht. Du schaust auf deine Armbanduhr, fünf nach neun, du wirst pünktlich sein, die Haltestelle ist gleich dort, und die Bahn kommt in drei Minuten. Du bist gut organisiert, das sagst du dir jeden Tag, und gehst im Kopf den Inhalt des Rucksacks durch: ein Regencape aus englisch grünem Wachstuch, eine Thermoskanne mit Tee, Wurstbrote, Käsebrote und zwei gekochte Eier, wie früher, und vor allem deine Kamera. Deine altmodische Spiegelreflexkamera, ja! Und Wechselwäsche, Badutensilien und all die heute nicht benötigten Dinge, was ein Blödsinn ist, sie jetzt schon mitzunehmen, erst morgen soll es richtig losgehen, aber Thomas wird auch sein ganzes Gepäck dabei haben, und wenn ihr euch heute O anschaut, oder was immer er vorhat, dann ist es reine Solidarität, wenn du dich selbst genauso beschwerst, wie er beschwert ist.
Lieber Gott, was habe ich nur?, denkst du und fasst dir ans Dekolleté, wo das Kreuz hängt, samt Rosenkranz, Lieber Gott, ich sollte mich doch freuen auf die Reise.
6.
Auf Yukikos Handgelenk erscheint ein tropischer Regenwald, und dank hochfrequenter Vibrationen und gleichzeitiger Fluoreszenz ist das eigentlich Hauchzartflache nun so volumig wie ein anschmiegsamer Schwamm, eine grüne, dreidimensionale, baumbestandene Miniaturwelt, in die sie regelrecht hineinschaut, und die sie, jetzt kaum noch bewusst wahrnehmbar, weiterführt, auf ihrem Weg zur Bahn, wo eine Wolke winziger vermeintlicher Fliegen sie empfängt, die sich sogleich als Nanoschwarm entpuppt, so wie sie in Formation gehen und Stimme sagen lassen: »So sehe ich dich tausenddreiundachtzigmal besser als anders«, was nur heißt, dass es 1083 millimetergroße Flugaugen sind, inmitten denen sie jetzt steht und wartet.
Die Station der Domlinie ist ein offener Tempel, mit Wetterschutz aus Gebetsfahnen, eigentlich nur ein mitten auf der Straße unscharf maskiertes Objekt, das aber mit geschlossenen Augen tausendmal prächtiger ist: wie eine Pagode im kambodschanischen Dschungel. Doch Yukiko lässt sie offen, ihre Augen, sie trotzt den mit eingenähten Screens versehenen Lidern.
»Yukiko«, sagt Stimme, »Yukiko, was ist mit meinem Namen? Ich finde, ich habe ihn mir verdient!«
Das hatte er. Oder sie. Oder es.
»Ich weiß«, sagt Yukiko leise zu dem grünen Scheinflausch an ihrem Arm, als die Bahn einfährt. Und der Flausch antwortet auf seine berührend virtuelle Art.
Yukiko steigt ein, setzt sich auf einen freien Platz in einer Vierergruppe. Gegenüber ein wachsgesichtiger Ziegenbart, der vor sich hinquasselt, »... schobotten, musse nur schobotten, dann kannste den SM3 in der Feelbank latensen, automically ... doch, echtameng, what I say, schobotten ...«, daneben ein Inder oder Pakistani, einer von diesen ohne Pupillen, das ist bei denen gerade ganz groß, diese Unterlid-Eyesticks, Kontaktlinsen mit Zusatzfunktionen, deren letzter Schrei vollweiß ist, die das Auge zu einem pupillenlosen Augapfel machen, das ist schärfer als jede Sonnenbrille.
Die Bahn taucht ab, downunder, und in der Tür zwei Frauen, 70 plus, die eine eher 80 plus oder plus plus, man scheint sich zu erkennen, Hallo, Wortwechsel, die 70 plus hat einen PG von 90 oder 95 oder mehr, ihre Hautoberfläche ist tief schwarz, und Yukiko fällt das auf die untere Gesichtshälfte beschränkte Grinsen auf: mit weißen Zähnen, ein unechtes Grinsen, wie zum Grinsen gezwungen, weil man sich real getroffen hat, als wäre das genetisch bedingt, ein Urreflex, der Mensch und Tier unterscheidet, dieses wohlwollende Zähnezeigen, die Mundwinkel, die natürlicherweise herabgehen, plötzlich angezogen, was Muskelkraft erfordert, und obwohl die beiden Frauen nicht weiterreden, sondern nur da stehen, verbleibt das schwarze Gesicht in diesem fast traurig zu nennenden Grinsen. Steht grinsend da in der Tür, in echt old school Klamotten, grau und irgendwie bayrisch, Leder, Filz, einen Rucksack hat sie auf dem Buckel, nein, kein Buckel, die Frau steht gerade wie eine Eins, aber was für ein Teil, dieser Rucksack! Die Bahn fährt, die Frau grinst immer noch, als hätte sie vergessen, das zu beenden. Yukiko fragt sich, ob die was träumt, oder an was denkt. Der grinsende Blick hinaus ins dunkle Vorbeirauschen des Tunnelbetons, und Yukiko umschließt mit der linken Hand den rechten Arm, streichelt über das noch immer Flausch simulierende FRIEND, das ihr Streichen mit einer zarten statischen Aufgeladenheit beantwortet, und ein ungefragtes Flötenspiel im Ohr lässt die harten Geräusche der Fahrzeugtechnik verschwimmen. Sie zupft mit dem Daumen eine Ecke hoch, das FRIEND wehrt sich, als wolle es nicht loslassen, es schmiegt sich wieder an, lässt sich aber dann doch lösen, wie eine Manschette, die Dschungelanimation verlischt, eine hauchdünne Plastikmanschette nun, in hellen Hautfarben, in der Farbe ihrer eigenen Haut, weiß wie Schnee. Yukiko hat einen PG von 1,7, den das FRIEND perfekt simuliert, ein Weiß, das sich beim Abziehen genauso schnell wieder auflöst, wie es zuvor das Grün des Waldes ersetzt hat. Yukiko drückt die sich wieder aufrollen wollenden Ränder auseinander, bis sie das FRIEND glatt und flach in ihren Fingern hält. Kaum größer als eine Postkarte, und wirklich ultranano flach. Und schwarz nun, der Touch überspielt seine Unsichtbarkeit, und neongelbe Buchstaben fragen: 'Wie ist mein Name?'
Yukiko wischt die Frage beiseite. Unsichtbar? Sie funzt die Fahrgäste. Die mit dem 95er PG ist echt unsichtbar. Echt und nothing. Kein Latitude, unmöglich, sie anzufunzen. Sogar die noch ältere Tattergreisin hinterlässt einen leuchtenden Punkt auf ihrem FRIEND, weil man ja sonst verloren geht, so alt und wer weiß wie dement. Aber die 95er ist nicht nur physisch dunkel; sie hat einfach nichts. Wie keine Identität.
[...]
Ein Transhumanistischer Roman
DERHANK
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eBook
231 Seiten
ISBN 978-3-8476-1673-3
4,99 €
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oder im Online-Buchhandel
Ein Mann (ich) und eine Frau (du) haben sich seit 50 Jahren nicht gesehen. In der Mitte des 21. Jahrhunderts treffen sie sich wieder und beschließen, von O nach M zu pilgern.
Ein Zwerg (er), ein Jude (sie) und ein Klon (es) spielen im himmeL wie auf Erden Vater Mutter Kind. In einer Welt, die jedem auf seine Art abhandenkommt, werden Engel gesichtet, die möglicherweise aus der Transhumanistischen Singularität stammen. Aber das ist schon fast eine andere Geschichte.
Wir schreiben das Jahr 2039. Die einstigen Schulfreunde Clara und Thomas treffen sich nach einem langen Leben am Vorabend der Technologischen Singularität wieder.
Clara, überzeugte weltflüchtige Katholikin, gehört zu jenen selten gewordenen Dinosauriern, die sich lebenslang konsequent der Benutzung von Computern oder gar Handys verweigert haben. Thomas, mit dem Clara eine alte, nie verwirklichte Liebesgeschichte verbindet, ist ein vielfach gescheiterter, aber noch immer von sich überzeugter und stets um ein kritisches Aneignen der digitalen Technologien bemühter Vagabund, der ebenfalls meint, bei ihr etwas nachholen zu müssen. Und dann sind da noch die 'digital natives' der neuen Zeit: der missgebildete Zwerg Alberich alias Big Jim, der schwarze schwule Jude Aaron alias Vanessa und deren gemeinsame virtuelle Tochter Yu ki ko·chô, die fast nur noch im sogenannten himmeL leben. Doch auch sie verlieren irgendwann die Orientierung in ihrer gleichermaßen echten wie unechten Welt.
ich du er sie es erzählt, was Google, Amazon, Apple und Facebook aus uns machen werden, oder was uns nach Clouds, Drohnen und der NSA-Affäre erwartet. Es geht aber um mehr als um Science oder Fiction. Zwar wirft das satirisch-kritische GLOSSAR einen ultimativen Blick auf eben diese unsere (un)mögliche Zukunft, aber letztlich sind die aufgeworfenen Fragen nach Liebe, Solidarität und den Formen des 'der Welt abhandenkommen's uralt und ewig. Und das Ende dessen, was man 'Geschichte' nennt, erscheint als großes virtuelles Spiel, das mit jeder neuen Runde eine jedesmal neue Wahrheit erzeugt.
Der Roman ich du er sie es spielt in der ZUKUNFT, versteht sich aber im höchsten Maße als GEGENWÄRTIG. Auftauchende Begriffe und Bezeichnungen, die im Wortschatz der 2010er Jahre einen vorerst nur assoziativen Widerhall erzeugen, können im GLOSSAR nachgeschlagen werden, dessen definitorischen Prognosen auch wie eine eigenständige Geschichte gelesen werden können.
Leseprobe ich du er sie es
O
1.
Das Objekt im Himmel. Das Objekt im Himmel war das Erste, was ich sah, als ich ins Freie trat. Das sich von einem undefinierbaren Punkt im stonewashed bleue der horizontal geschichteten Atmosphäre mit einem unterschwelligen, stetig ansteigenden, von kaum merklichen Fehlzündungen des Hauptvergasers nicht wirklich unterbrochenen Brummen allmählich lösende Objekt im Himmel war eine Art Molluske, und zwar von der schrumpeligen Sorte, klumpig, gedrungen, beinahe wässrig oder schlierig; und obwohl der Vergleich hinkt, brauchten die ihre Köpfe hebenden Menschen nicht lange, bis sie das Ding als gigantische Riesenkartoffel identifizierten: an die hundert Meter lang, etwa 25, 30 breit, mit verdorrten Wurzeltrieben, die wie die schlaffen Extremitäten einer Kopffüßlerpuppe über dem Bahnhof von O herabbaumelten.
Ich zog mein END aus der Gesäßtasche und recherchierte, dass das Schrumpelproblem des von einem weltbekannten Tiefkühlpommesfritesoligarchen für sage und schreibe zehn Jahre zum Festpreis gecharteten Werbezeppelins des Typs SOL von einem Loch auf der Oberseite der Nylonhaut herrührte, einem Treffer aus Weltraumschrott, welcher immer häufiger, bei Sonnenstürmen ganz besonders, die Erde heimsucht.
2.
Du träumtest deine Mutter, träumtest, deine Mutter träume dich. Von roter Erde, die bis zum Himmel geht. Dessen Farbe ein so unendlich tiefes Blau ist, dass man darin die Sterne zu sehen glaubt. Das geträumte Gras ist knuspergelb, vertrocknet, und voller geflügelter Ameisen; riesengroße, sodass die Halme sich bis zum Boden neigen und von immer mehr Insekten erklommen werden. Ein Hochzeitsflug am Rande eines Wasserlochs, Hunderte, die aufsteigen, sich suchen, finden, kopulieren und auf ihre Art lieben, und Vögel, die sie jagen und fressen, und Königinnen, die sich nach dem Akt die Flügel abzwirbeln und untertauchen und neue Reiche gründen, und erschöpfte Männchen, die bei ihrer Rückkehr am Nesteingang von ihren flügellosen Schwestern verstoßen werden; eine eigene Welt mit eigenen Geschichten, und ein kleines schwarzes Mädchen, dessen Haut so vollkommen das Sonnenlicht schluckt, dass sie nicht einmal glänzt; des kleinen Mädchens Augen strahlen beim Anblick der aufsteigenden Tiere, deren Schwingen einen unheimlichen Lärm machen - Lärm, der immer schriller wird, ohrenbetäubend, und bevor das Kind sich umdreht, siehst du selbst die Maschine:
Propeller, die sich so schnell drehen, schneller, als ihr kleiner Bumerang, den sie in der Hand hält, jemals gedreht hat, so schnell, dass sie flirrende durchsichtige Scheiben in die Luft malen, und neben der Maschine drei Männer, denen man die Haut abgezogen hat! Männer mit breitkrempigen Hüten und bleichen Bärten, und eine ebenso gehäutete Frau mit Haaren wie aus Feuer, nass und blutädrig, und du weißt, das sind Balanda - auch Gubba, Migaloo, Wajala oder Walypala genannt -, das sind die 'Weißen Menschen', die keine Menschen sind, das sind die Unvollkommenen, die ihre Körper aus rohem Fleisch mit Stoff bedecken müssen, und du willst das Kind warnen, es soll weglaufen, es soll sich verstecken, du rufst, du schreist, aber man kann dich nicht hören, wegen des Heulens der Maschine, auch die Männer rufen, haben ihre Münder weit aufgerissen, aber auch sie kann man nicht hören, und du siehst, wie sie nach dem Kind greifen, unbeholfen, sich gegenseitig behindernd, beinahe tollpatschig, wie spielende Wallabies - aber das ist kein Spiel, Das ist kein Spiel!, schreist du, und endlich begreifst du, dass du selbst das Mädchen bist, das Mädchen, das immer noch strahlt, das immer noch nicht wegläuft, es ist wie gefangen im Lärm der Maschine, und sein Lachen ist in dir festgefroren, und erst als die Männer mit ihren lachlosen Gesichtern das Mädchen fast erreicht haben, sieht es sich suchend um und entdeckt den, nach dem es schon den ganzen Morgen gesucht hat. Da ist er, gar nicht weit, im Schatten eines toten Eukalypten, das Mädchen rennt los und ruft mit der hellen Kinderstimme eines 60er-Jahre-Films: Vater, Vater ...!
Du schreckst hoch.
Auch jetzt, beim Ankleiden, bekommst du jedes Mal Herzklopfen, wenn du nur daran denkst. Du hast im Dunkeln neben dich gefasst, ins Leere, in das, wo immer ein Mann gewesen war. Aber du hast nicht an deinen Mann gedacht.
3.
Mich berührte die ungewollte dermatologische - im wahrsten Sinne des Wortes: - Vielfältigkeit des Objektes auf eine zugleich anheimelnde wie unheimliche Weise, sodass ich ihm meine mitfühlendsten Gedanken hinterherschickte, mich förmlich selbst über die Wolken schwang und beim virtuellen Hinabschauen auf die Ameisenwelt da unten beinahe die Zeit vergaß - und fast zu spät zu meiner Verabredung gekommen wäre.
Bis zum Domplatz - der nicht mehr Domplatz hieß, wie mir mein END mitteilte, der nach der concernation umbenannt worden war, die ihn mitsamt des Doms aufgekauft hatte und bewirtschaftete, ich aber beschloss, ihn weiter Domplatz zu nennen -, bis zum Domplatz waren es noch anderthalb Kilometer, ich könnte die Domlinie nehmen, O hatte sich vor Jahren eine U-Bahn geleistet, aber ich beschloss, zu Fuß zu gehen, denn es war einer dieser frühen Stadtmorgende, wie ich sie liebe: die Geschäfte noch mit sich selbst beschäftigt, die Besenwagen kehrten den Unrat von den Straßen und Eilige tranken ihre schnellen Espressi an den Kaffeeschenken, im Stehen, immer schon mit einem Bein weiter, und das Wetter kündigte einen sonnigen Tag an, die Luft aber war noch kühl und feucht vom nächtlichen Regen, und aus den Gullis dampften süßliche Schwaden, die sich den Gerüchen der Konditorautomaten beimischten. Und am meisten liebe ich es, wenn mir eine Stadt so fremd ist wie diese hier, die meine Geburtsstadt ist; denn nichts ist so fremd wie die Heimat, nachdem man die Welt gesehen hat.
4.
Yu ki ko·chô, die viele Leben hat, bleibt für diesmal stehen. Für einen Blick auf drei Altersgenossinnen, Schulmädchen, sechste, höchstens siebte Klasse, drei mal eng beisammen auf den Drahtgittersitzen der Haltestelle am Hauptbahnhof, fein gezeichnete Wesen und auf New-Nippon-Art germanisch frisiert, das strohige Walkürenhaar zu dicken Zöpfen geflochten, die überproportional großen, chirurgisch geformten Mandelaugen mit Wimpern wie Schmetterlingsflügel, die künstlichen Sommersprossen, die rostrot bemalten Münder, die grellweißen Rüschenblusen, die bunten Krawatten, die kurzen, plüschigen Röcke in pink, himmel und mint und die individuell bedruckten Seidenstrümpfe, die bis über die dünnen, weißen Oberschenkel gezogen sind und in asteroidentauglichen Megaboots verschwinden - die drei Tools sind supercute! Und wie sie da für sich sind, jede ihr FRIEND vor Augen, sich nur hie und da gegenseitig die Screens zeigend, das hat nur wenig von Kindischsein oder Kleinen-Mädchen-Albernheiten. Wären es Jungs, wären das mannbare Penisvergleiche, aber Mädchen vergleichen keine Penisse, Mädchen sind schon in diesem Alter gänzlicher, zeigen sich ihre Freunde und meinen nicht mal die auf den Screens in Text, Ton, Pic oder Vid dargestellten Kontakte, sondern die Screens selbst. Die FRIENDs sind das Wesentliche.
Yukiko wird weitergezogen, als würde das jemand nicht mögen, dieses Verharren und auf fremde Touchs glotzen. »Eifersüchtig?«, fragt sie, und die Stimme in ihrem Ohr lacht.
»Gib mir einen Namen!«, sagt sie, die Stimme.
»Wird es dann was anderes?«
Sie betrachtet ihr rechtes Handgelenk, um das sie ihr eigenes, nagelneues FRIEND gelegt hat - oder um das ES sich geschmiegt hat, von selber. Kein Geschenk, das FRIEND, sondern ein Vorschuss von Papa BIG, Vorschuss und Arbeitsgerät zugleich, eine gerollte Nanofolie, dünn wie Papier, aber weicher, und zugleich fester, ein angenehmer Griff, und obwohl sie so dünn ist, spürt Yukiko einzelne Finger, die das FRIEND irgendwie elektronisch simuliert.
»Was eigenes ...«, antwortet Stimme, die männlich ist, die nur im linken Ohr zu hören ist, was Yukiko immer ein wenig irritiert, aber sie mag sich trotzdem keinen zweiten Stick einsetzen lassen. Ein Ohr muss frei bleiben.
»Was eigenes ...«, wiederholt sie, was spöttisch klingen soll, und wirklich scheint Stimme den Spott zu spüren.
»Du kannst mich nicht immer nur 'Ding' nennen«, sagt Stimme, »ich nenn' dich auch nicht 'Tool'!«
Yukiko überquert die Straße, so spontan, dass der heranhuschende Wagen bremsen muss, dass der sie nur in einer ausgeklügelten Kurve zwischen zwei entgegenkommenden Fahrzeugen umfahren kann, was sogar den vor sich hinkontemplierenden Insassen hinter seiner getönten Smartscheibe aufblicken lässt.
»Warum machst du das?«, fragt Stimme, »ich muss dich darauf hinweisen, dass GOD bei spontanen Richtungswechseln keine Garantie für die persönliche Sicherheit übernimmt.«
»Ding ist doch mein Lebensretter!«, sagt Yukiko und wäre beinahe gegen ein fremdes Tool gelaufen, das weltvergessen nach oben in den Himmel starrt, in den richtigen. Vielleicht lässt es bzw. lässt er (es ist ein Mann) sich gerade ablichten von der über ihnen schwebenden SOL. Sie hätte ihn angerempelt, wäre ihm dessen eigenes FRIEND nicht zu Hilfe gekommen und hätte ihn unsanft beiseite gelenkt; und das ihre, das so gerne endlich einen Namen hätte, flüstert per Stimme nochmals »Yukiko ...?«
Yukiko geht weiter und sieht sich nach dem Tool um. Irgendwas ist nicht really FRIENDig an dem, und sie meint dabei nicht das Äußere, diesen ballonseidenen Rucksack, diesen old school Hut aus Goretexleder, diese funktionslose Brille, diese Survivalklamotten oder diese Reifengummisandalen, aus denen sich gelbe, verwachsene Dinosaurierzehennägel herausschieben, nein, es ist die Art gewesen, wie der ihr ausgewichen ist. Wie als hätte er das selbst getan, also ungeführt, und, na klar, der Opa hatte gar kein echtes FRIEND in der Hand, oder wenn, dann ein uraltes, so ein Brett wie früher. Mit so was muss man natürlich zusehen, wo man bleibt.
»Ist ER das etwa?«, fragt Yukiko und weiß es schon, simultan.
5.
Du ziehst die Wohnungstür zu. Mit einem Gefühl von Auf Nimmerwiedersehen, dabei ist es doch nur für den Tag. Du schließt ab, was kaum geht, weil das Schloss von innen verrostet ist, aber du willst kein neues, kein biometrisches, wie die Flurnachbarn gegenüber, wie alle im Haus, alle haben das jetzt, alle, alle, alle ... du nicht.
Du zerrst an der Lederschlaufe deines Rucksacks, machst die Schnalle um ein Loch enger und dann holst du den Aufzug, ohne nachzudenken, ärgerst dich darüber und gehst, noch bevor sich die Schiebetür öffnet, die Treppe hinunter. Du brauchst keinen Aufzug, in deinem Alter noch lange nicht. Das mit dem Aufzug, das hattest du dir wegen Willi angewöhnt. Das steckt noch so im Blut, dass du ihn jedes Mal holst, jedes Mal vergisst, dass du ihn nicht mehr brauchst. Den Aufzug.
Willi ...
Draußen ist es kalt, es ist Mai, aber dir ist kalt, dir ist ständig kalt in diesem kalten Land, wo der Wind in den Ohren wehtut. Sofort spürst du ihn wieder, den Tubenkatarrh, dein rechtes Ohr rauscht und drückt und fühlt sich an wie zugepfropft. Jetzt krank werden, das fehlt gerade noch, aber in dieser Kälte muss man ja krank werden. Du bist ein Wüstenkind, obwohl du die nie gesehen hast, die Wüste, keine Erinnerungen, nur Träume, Albträume wie letzte Nacht. Du schaust auf deine Armbanduhr, fünf nach neun, du wirst pünktlich sein, die Haltestelle ist gleich dort, und die Bahn kommt in drei Minuten. Du bist gut organisiert, das sagst du dir jeden Tag, und gehst im Kopf den Inhalt des Rucksacks durch: ein Regencape aus englisch grünem Wachstuch, eine Thermoskanne mit Tee, Wurstbrote, Käsebrote und zwei gekochte Eier, wie früher, und vor allem deine Kamera. Deine altmodische Spiegelreflexkamera, ja! Und Wechselwäsche, Badutensilien und all die heute nicht benötigten Dinge, was ein Blödsinn ist, sie jetzt schon mitzunehmen, erst morgen soll es richtig losgehen, aber Thomas wird auch sein ganzes Gepäck dabei haben, und wenn ihr euch heute O anschaut, oder was immer er vorhat, dann ist es reine Solidarität, wenn du dich selbst genauso beschwerst, wie er beschwert ist.
Lieber Gott, was habe ich nur?, denkst du und fasst dir ans Dekolleté, wo das Kreuz hängt, samt Rosenkranz, Lieber Gott, ich sollte mich doch freuen auf die Reise.
6.
Auf Yukikos Handgelenk erscheint ein tropischer Regenwald, und dank hochfrequenter Vibrationen und gleichzeitiger Fluoreszenz ist das eigentlich Hauchzartflache nun so volumig wie ein anschmiegsamer Schwamm, eine grüne, dreidimensionale, baumbestandene Miniaturwelt, in die sie regelrecht hineinschaut, und die sie, jetzt kaum noch bewusst wahrnehmbar, weiterführt, auf ihrem Weg zur Bahn, wo eine Wolke winziger vermeintlicher Fliegen sie empfängt, die sich sogleich als Nanoschwarm entpuppt, so wie sie in Formation gehen und Stimme sagen lassen: »So sehe ich dich tausenddreiundachtzigmal besser als anders«, was nur heißt, dass es 1083 millimetergroße Flugaugen sind, inmitten denen sie jetzt steht und wartet.
Die Station der Domlinie ist ein offener Tempel, mit Wetterschutz aus Gebetsfahnen, eigentlich nur ein mitten auf der Straße unscharf maskiertes Objekt, das aber mit geschlossenen Augen tausendmal prächtiger ist: wie eine Pagode im kambodschanischen Dschungel. Doch Yukiko lässt sie offen, ihre Augen, sie trotzt den mit eingenähten Screens versehenen Lidern.
»Yukiko«, sagt Stimme, »Yukiko, was ist mit meinem Namen? Ich finde, ich habe ihn mir verdient!«
Das hatte er. Oder sie. Oder es.
»Ich weiß«, sagt Yukiko leise zu dem grünen Scheinflausch an ihrem Arm, als die Bahn einfährt. Und der Flausch antwortet auf seine berührend virtuelle Art.
Yukiko steigt ein, setzt sich auf einen freien Platz in einer Vierergruppe. Gegenüber ein wachsgesichtiger Ziegenbart, der vor sich hinquasselt, »... schobotten, musse nur schobotten, dann kannste den SM3 in der Feelbank latensen, automically ... doch, echtameng, what I say, schobotten ...«, daneben ein Inder oder Pakistani, einer von diesen ohne Pupillen, das ist bei denen gerade ganz groß, diese Unterlid-Eyesticks, Kontaktlinsen mit Zusatzfunktionen, deren letzter Schrei vollweiß ist, die das Auge zu einem pupillenlosen Augapfel machen, das ist schärfer als jede Sonnenbrille.
Die Bahn taucht ab, downunder, und in der Tür zwei Frauen, 70 plus, die eine eher 80 plus oder plus plus, man scheint sich zu erkennen, Hallo, Wortwechsel, die 70 plus hat einen PG von 90 oder 95 oder mehr, ihre Hautoberfläche ist tief schwarz, und Yukiko fällt das auf die untere Gesichtshälfte beschränkte Grinsen auf: mit weißen Zähnen, ein unechtes Grinsen, wie zum Grinsen gezwungen, weil man sich real getroffen hat, als wäre das genetisch bedingt, ein Urreflex, der Mensch und Tier unterscheidet, dieses wohlwollende Zähnezeigen, die Mundwinkel, die natürlicherweise herabgehen, plötzlich angezogen, was Muskelkraft erfordert, und obwohl die beiden Frauen nicht weiterreden, sondern nur da stehen, verbleibt das schwarze Gesicht in diesem fast traurig zu nennenden Grinsen. Steht grinsend da in der Tür, in echt old school Klamotten, grau und irgendwie bayrisch, Leder, Filz, einen Rucksack hat sie auf dem Buckel, nein, kein Buckel, die Frau steht gerade wie eine Eins, aber was für ein Teil, dieser Rucksack! Die Bahn fährt, die Frau grinst immer noch, als hätte sie vergessen, das zu beenden. Yukiko fragt sich, ob die was träumt, oder an was denkt. Der grinsende Blick hinaus ins dunkle Vorbeirauschen des Tunnelbetons, und Yukiko umschließt mit der linken Hand den rechten Arm, streichelt über das noch immer Flausch simulierende FRIEND, das ihr Streichen mit einer zarten statischen Aufgeladenheit beantwortet, und ein ungefragtes Flötenspiel im Ohr lässt die harten Geräusche der Fahrzeugtechnik verschwimmen. Sie zupft mit dem Daumen eine Ecke hoch, das FRIEND wehrt sich, als wolle es nicht loslassen, es schmiegt sich wieder an, lässt sich aber dann doch lösen, wie eine Manschette, die Dschungelanimation verlischt, eine hauchdünne Plastikmanschette nun, in hellen Hautfarben, in der Farbe ihrer eigenen Haut, weiß wie Schnee. Yukiko hat einen PG von 1,7, den das FRIEND perfekt simuliert, ein Weiß, das sich beim Abziehen genauso schnell wieder auflöst, wie es zuvor das Grün des Waldes ersetzt hat. Yukiko drückt die sich wieder aufrollen wollenden Ränder auseinander, bis sie das FRIEND glatt und flach in ihren Fingern hält. Kaum größer als eine Postkarte, und wirklich ultranano flach. Und schwarz nun, der Touch überspielt seine Unsichtbarkeit, und neongelbe Buchstaben fragen: 'Wie ist mein Name?'
Yukiko wischt die Frage beiseite. Unsichtbar? Sie funzt die Fahrgäste. Die mit dem 95er PG ist echt unsichtbar. Echt und nothing. Kein Latitude, unmöglich, sie anzufunzen. Sogar die noch ältere Tattergreisin hinterlässt einen leuchtenden Punkt auf ihrem FRIEND, weil man ja sonst verloren geht, so alt und wer weiß wie dement. Aber die 95er ist nicht nur physisch dunkel; sie hat einfach nichts. Wie keine Identität.
[...]