8½
Lichtjahre
DERHANK
Kurze Erzählung
eBook
41 Seiten
ISBN-13 978-3-8476-1628-3
0,99 €
erhältlich im Online-Buchhandel
»Achteinhalb Minuten benötigt das Licht von der Sonne bis zu mir. Und zurück noch einmal achteinhalb Minuten, bis es mit dem Bild meines Gesichts, meines Körpers und meines Motorrads wieder in sie eintaucht.«
Parabel auf die Zeit und darauf, dass alles Geschehen zeitverzögert bei bzw. in uns eintrifft, sprich: wahrgenommen wird.
Nominiert für den LIT.AWARD'Ruhr Oberhausen 2010.
Leseprobe 8½
Achteinhalb Minuten benötigt das Licht von der Sonne bis zu mir. Und zurück noch einmal achteinhalb Minuten, bis es mit dem Bild meines Gesichts, meines Körpers und meines Motorrads wieder in sie eintaucht.
In der letzten Sekunde meines ersten Lebens betrachtete mich unser Stern nichts ahnend, sah mich auf dem Aussichtsplatz an der Ruhrtalstraße, sah, wie ich ihn anblinzelte; eine Selbstgedrehte im Mund, die Lederjacke aufgeknöpft und eine nagelneue Enduro Simson S 51 zwischen den Schenkeln. In dieser Sekunde hatte ich meine letzten achteinhalb Minuten bereits hinter mir.
Am Sonntagvormittag des 23. September 1984 unternimmt der neunzehnjährige Christian Q. einen Motorradausflug durchs Ruhrtal. Es ist 10.32 Uhr, als bei einem Überholmanöver im Ardeygebirge seine Lichtmaschine ausfällt. Er sieht den entgegenkommenden VW-Bus und weiß, dass er weder überholen noch rechtzeitig hinter den Opel Kadett zurückfallen kann.
In der Morgendämmerung dieses letzten Tages hatte mich das unruhige Funkeln von Sirius geweckt. Sirius ist der hellste Stern am Himmel, und sein Licht brauchte achteinhalb Jahre bis zu mir. Sirius hat keinen guten Ruf bei den Menschen, so wenig wie ich, und schon deswegen mag ich ihn. Immer noch. Das alles weiß ich von Opa. Von ihm weiß ich auch, dass der Nachthimmel einen Bogen über sämtliche Epochen zwischen heute und der Zeit spannt, in der es noch keine Menschen gab, nicht mal Dinosaurier. Jedes Sternenlicht ist ein eigenes Abbild aus einer eigenen Vergangenheit, und zusammen bilden sie ein Mosaik aus Milliarden alter Zeiten. Aber Opa hatte herausgefunden, dass die Sterne durch ein Netz überlichtschneller Linien verbunden sind. »Space-Highways« nannte er sie.
Christian wird langsamer, dreht ohne Wirkung am Gas und schert in letzter Sekunde vor dem zu spät bremsenden Kleinbus aus. Er fliegt über den Abhang, überschlägt sich und liegt am Ende reglos in einer Böschung, deren Neigung gerade einen exakt lotrechten Winkel zu Sirius bildet, einer Doppelsonne im Sternbild des Großen Hundes.
Opa lebt auf Sirius. Schon lange. Bevor ich vor Schmerzen das Bewusstsein verlor, musste ich noch an ihn denken. Unfähig mich zu rühren, habe ich ihn angesehen, angefleht geradezu. Aber Opa konnte in diesem Moment nur beobachten, wie ich vor achteinhalb Jahren die Schule schwänzte, um im Stadtpark heimlich zu rauchen.
»Na«, dürfte er gedacht haben, »dass der Junge mal nicht auf die schiefe Bahn gerät!« Wenn Opa wüsste! Eine Ewigkeit habe ich auf den Tag gewartet, an dem Opa erfährt, wie sehr ich wirklich auf die schiefe Bahn geraten bin. Und dieser Tag ist heute! Opa sieht mich - JETZT! Mich und meine Enduro! Gleichauf mit dem Kadett, vor dem Bulli! Acht Jahre, sieben Monate und sieben Tage hat dieser Anblick gebraucht, um Opas Augen zu treffen. Aber weil seine Maschine viel schneller ist als meine Lichtwellen, werde ich nicht mehr warten müssen.
Lange bevor der Rettungshubschrauber am Horizont auftaucht, haben die Bilder seines gefallenen Körpers die Sonne hinter sich gelassen. Und als sich Christian im Anflug auf die Unfallklinik Duisburg Buchholz befindet, erreichen sie die Ringe des Saturn. Der Widerschein seines Sturzes bläht sich auf wie ein stetig wachsender Lichtballon.
Die anderen Patienten schlafen, nur ich spüre die Veränderung. Ich ziehe meinen fremden Rumpf am Bettgalgen hoch und schiebe, ruckel, wuchte das Fleisch in den monströsen elektrischen Rollstuhl. Irgendwie gelingt es mir, schief sitzend, zur Balkontür zu fahren. Meine tauben Hände drücken den Hebel gewaltsam in die Horizontale und zerren die Tür auf. Da ist sie: schwerelos hinter dem Balkongeländer, die mondbeschienene Maschine! Keine Enduro, sondern eine riesige, umgebaute Harley-Davidson, eine Chopper, eine chromglänzende Motorradrakete, die es nirgendwo zu kaufen gibt. Natürlich schwebt sie nicht wirklich. Opas Erfindung parkt auf dem Standstreifen der 32-spurigen Überlichtautobahn nach Sirius. Ich fahre den Rollstuhl gegen das Geländer, fahre einfach hindurch, die Stangen können mich nicht halten, und dann erscheint zu meinen thrombosestrumpfgestützten Füßen der Lichtasphalt - der Stoff, der die Sterne verbindet. Ich stehe auf, gehe, als wäre Gehen das Normalste von der Welt, zu dem Gefährt und greife mit kribbelnden Fingern ans Lenkrad. Nur noch das Stützbein zurückschieben, hinsetzen, losfahren! Ich habe keine Angst, schwinge das rechte Bein hinüber, lasse den wundvernarbten Hintern in den Ledersitz gleiten, lege die Hornhautfüße auf die Pedalen und genieße das kühle Metall des Zündschlüssels zwischen den Fingern. Der Vergaser knallt, die Chopper steigt hoch wie ein Hengst und rummst federnd zurück auf die Bahn. Ein irrer Sound hallt von den Betonfassaden der Klinik wider und der Lichtkegel des Scheinwerfers wirft sich unerschrocken in die Zukunft.
Der diensthabende Unfallchirurg diagnostiziert neben zahllosen Prellungen und Schürfwunden eine Fraktur im sechsten Halswirbel, die Christian zu einem Tetraplegiker macht, einem Querschnittsgelähmten, der sich - außer im Kopf - nie wieder richtig bewegen oder spüren wird. Eine Stunde später ist seine Familie da: die Mutter Margret Q., Hausfrau und Kassiererin, und der Vater Walter Q., ehemaliger Steiger auf Osterfeld. Zusammen mit Großmutter Johanna P. leben sie in einem kleinen Zechenhaus in Oberhausen Sterkrade; einer rußrot verklinkerten Doppelhaushälfte aus den dreißiger Jahren. Christians älterer Bruder Dirk ist wenige Wochen vor dem Unfall ausgezogen, sodass ihm das Zimmer unterm Dach jetzt alleine gehört. Seine Freundin Ulla W., die darin vor zwei Tagen die glücklichste Nacht ihres Lebens verbracht hat, ringt sich beim Anblick des ohnmächtigen Jungen das Versprechen ewiger Liebe ab. Über den Großvater spricht niemand. Als die Familie sich am Krankenbett sammelt, haben auch die entferntesten Planeten unserer Sonne von dem Unfall erfahren.
[...]
Lichtjahre
DERHANK
Kurze Erzählung
eBook
41 Seiten
ISBN-13 978-3-8476-1628-3
0,99 €
erhältlich im Online-Buchhandel
»Achteinhalb Minuten benötigt das Licht von der Sonne bis zu mir. Und zurück noch einmal achteinhalb Minuten, bis es mit dem Bild meines Gesichts, meines Körpers und meines Motorrads wieder in sie eintaucht.«
Parabel auf die Zeit und darauf, dass alles Geschehen zeitverzögert bei bzw. in uns eintrifft, sprich: wahrgenommen wird.
Nominiert für den LIT.AWARD'Ruhr Oberhausen 2010.
Leseprobe 8½
Achteinhalb Minuten benötigt das Licht von der Sonne bis zu mir. Und zurück noch einmal achteinhalb Minuten, bis es mit dem Bild meines Gesichts, meines Körpers und meines Motorrads wieder in sie eintaucht.
In der letzten Sekunde meines ersten Lebens betrachtete mich unser Stern nichts ahnend, sah mich auf dem Aussichtsplatz an der Ruhrtalstraße, sah, wie ich ihn anblinzelte; eine Selbstgedrehte im Mund, die Lederjacke aufgeknöpft und eine nagelneue Enduro Simson S 51 zwischen den Schenkeln. In dieser Sekunde hatte ich meine letzten achteinhalb Minuten bereits hinter mir.
Am Sonntagvormittag des 23. September 1984 unternimmt der neunzehnjährige Christian Q. einen Motorradausflug durchs Ruhrtal. Es ist 10.32 Uhr, als bei einem Überholmanöver im Ardeygebirge seine Lichtmaschine ausfällt. Er sieht den entgegenkommenden VW-Bus und weiß, dass er weder überholen noch rechtzeitig hinter den Opel Kadett zurückfallen kann.
In der Morgendämmerung dieses letzten Tages hatte mich das unruhige Funkeln von Sirius geweckt. Sirius ist der hellste Stern am Himmel, und sein Licht brauchte achteinhalb Jahre bis zu mir. Sirius hat keinen guten Ruf bei den Menschen, so wenig wie ich, und schon deswegen mag ich ihn. Immer noch. Das alles weiß ich von Opa. Von ihm weiß ich auch, dass der Nachthimmel einen Bogen über sämtliche Epochen zwischen heute und der Zeit spannt, in der es noch keine Menschen gab, nicht mal Dinosaurier. Jedes Sternenlicht ist ein eigenes Abbild aus einer eigenen Vergangenheit, und zusammen bilden sie ein Mosaik aus Milliarden alter Zeiten. Aber Opa hatte herausgefunden, dass die Sterne durch ein Netz überlichtschneller Linien verbunden sind. »Space-Highways« nannte er sie.
Christian wird langsamer, dreht ohne Wirkung am Gas und schert in letzter Sekunde vor dem zu spät bremsenden Kleinbus aus. Er fliegt über den Abhang, überschlägt sich und liegt am Ende reglos in einer Böschung, deren Neigung gerade einen exakt lotrechten Winkel zu Sirius bildet, einer Doppelsonne im Sternbild des Großen Hundes.
Opa lebt auf Sirius. Schon lange. Bevor ich vor Schmerzen das Bewusstsein verlor, musste ich noch an ihn denken. Unfähig mich zu rühren, habe ich ihn angesehen, angefleht geradezu. Aber Opa konnte in diesem Moment nur beobachten, wie ich vor achteinhalb Jahren die Schule schwänzte, um im Stadtpark heimlich zu rauchen.
»Na«, dürfte er gedacht haben, »dass der Junge mal nicht auf die schiefe Bahn gerät!« Wenn Opa wüsste! Eine Ewigkeit habe ich auf den Tag gewartet, an dem Opa erfährt, wie sehr ich wirklich auf die schiefe Bahn geraten bin. Und dieser Tag ist heute! Opa sieht mich - JETZT! Mich und meine Enduro! Gleichauf mit dem Kadett, vor dem Bulli! Acht Jahre, sieben Monate und sieben Tage hat dieser Anblick gebraucht, um Opas Augen zu treffen. Aber weil seine Maschine viel schneller ist als meine Lichtwellen, werde ich nicht mehr warten müssen.
Lange bevor der Rettungshubschrauber am Horizont auftaucht, haben die Bilder seines gefallenen Körpers die Sonne hinter sich gelassen. Und als sich Christian im Anflug auf die Unfallklinik Duisburg Buchholz befindet, erreichen sie die Ringe des Saturn. Der Widerschein seines Sturzes bläht sich auf wie ein stetig wachsender Lichtballon.
Die anderen Patienten schlafen, nur ich spüre die Veränderung. Ich ziehe meinen fremden Rumpf am Bettgalgen hoch und schiebe, ruckel, wuchte das Fleisch in den monströsen elektrischen Rollstuhl. Irgendwie gelingt es mir, schief sitzend, zur Balkontür zu fahren. Meine tauben Hände drücken den Hebel gewaltsam in die Horizontale und zerren die Tür auf. Da ist sie: schwerelos hinter dem Balkongeländer, die mondbeschienene Maschine! Keine Enduro, sondern eine riesige, umgebaute Harley-Davidson, eine Chopper, eine chromglänzende Motorradrakete, die es nirgendwo zu kaufen gibt. Natürlich schwebt sie nicht wirklich. Opas Erfindung parkt auf dem Standstreifen der 32-spurigen Überlichtautobahn nach Sirius. Ich fahre den Rollstuhl gegen das Geländer, fahre einfach hindurch, die Stangen können mich nicht halten, und dann erscheint zu meinen thrombosestrumpfgestützten Füßen der Lichtasphalt - der Stoff, der die Sterne verbindet. Ich stehe auf, gehe, als wäre Gehen das Normalste von der Welt, zu dem Gefährt und greife mit kribbelnden Fingern ans Lenkrad. Nur noch das Stützbein zurückschieben, hinsetzen, losfahren! Ich habe keine Angst, schwinge das rechte Bein hinüber, lasse den wundvernarbten Hintern in den Ledersitz gleiten, lege die Hornhautfüße auf die Pedalen und genieße das kühle Metall des Zündschlüssels zwischen den Fingern. Der Vergaser knallt, die Chopper steigt hoch wie ein Hengst und rummst federnd zurück auf die Bahn. Ein irrer Sound hallt von den Betonfassaden der Klinik wider und der Lichtkegel des Scheinwerfers wirft sich unerschrocken in die Zukunft.
Der diensthabende Unfallchirurg diagnostiziert neben zahllosen Prellungen und Schürfwunden eine Fraktur im sechsten Halswirbel, die Christian zu einem Tetraplegiker macht, einem Querschnittsgelähmten, der sich - außer im Kopf - nie wieder richtig bewegen oder spüren wird. Eine Stunde später ist seine Familie da: die Mutter Margret Q., Hausfrau und Kassiererin, und der Vater Walter Q., ehemaliger Steiger auf Osterfeld. Zusammen mit Großmutter Johanna P. leben sie in einem kleinen Zechenhaus in Oberhausen Sterkrade; einer rußrot verklinkerten Doppelhaushälfte aus den dreißiger Jahren. Christians älterer Bruder Dirk ist wenige Wochen vor dem Unfall ausgezogen, sodass ihm das Zimmer unterm Dach jetzt alleine gehört. Seine Freundin Ulla W., die darin vor zwei Tagen die glücklichste Nacht ihres Lebens verbracht hat, ringt sich beim Anblick des ohnmächtigen Jungen das Versprechen ewiger Liebe ab. Über den Großvater spricht niemand. Als die Familie sich am Krankenbett sammelt, haben auch die entferntesten Planeten unserer Sonne von dem Unfall erfahren.
[...]